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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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drückte auf das H. Dann suchte ich nach dem A, aber ich fand es nicht sofort und innerlich ärgerte ich mich bereits, dass es so lange dauerte, und dann begann ich, wild in die Tasten zu hauen, um zumindest so laut zu sein wie Papas Sekretärin. Ja, so ungefähr hatte es sich angehört. Aber ich drückte die Tasten viel zu schnell, sodass sich
die Maschinenarme mit den Buchstaben ineinander verkeilten und ich sie vorsichtig wieder auseinanderbewegen musste. Als ich ungefähr ein Viertel des Blattes beschrieben hatte, stoppte ich in der Erwartung, dass ich schon irgendwie etwas Sinnvolles geschrieben haben musste, aber es war nur ein Buchstabenchaos zu sehen und ich gab entnervt auf.
    Abends saßen wir beim Essen, als Papa fragte: »Sag mal, wer hat denn vorhin auf der Schreibmaschine geschrieben?«
    »Das war ich. Ich habe geübt.«
    »Was hast du denn geschrieben? Zeig mal!« Ich ging ins Büro, holte das Blatt Papier und hielt es ihm unter die Nase. Papa schaute sich das Blatt an und begann herzhaft zu lachen: »Njunja, was ist das denn? Komm mal mit, ich zeig dir, wie du es lernen kannst.« Wir gingen in mein Büro und er setzte sich auf den Lederstuhl. Irgendwie stand der ihm viel besser als mir, denn er versank nicht darin, so wie ich. Er nahm sich ein leeres Blatt Papier und legte es gekonnt in die Schreibmaschine. Dann tippte er los, zwar nicht so flink wie seine Sekretärin, aber sein Tempo hätte mir gereicht. Er nahm das Blatt raus und legte es mir auf den Tisch.
    »The quick brown fox jumps over the lazy dog.« Er schaute mich an. »In diesem Satz sind alle Buchstaben des Alphabets enthalten. Tipp ihn so lange, bis du ihn auswendig kannst. So lernst du, wo die Buchstaben in der Tastatur sind.« Papa war einfach ein Genie! Ich schnappte mir das Blatt und legte es neben die Schreibmaschine.
    Am nächsten Tag kam Jassar zu Besuch. Ich saß hinterm Schreibtisch und war schon fleißig am Üben, als er in mein Büro kam. »Ach, guten Tag, Frau Generalsekretärin Sufi!« Er brachte mich immer wieder ganz einfach dazu, in herzhaftes Lachen auszubrechen. »Ich lerne gerade, wie man Schreibmaschine schreibt. Schau mal, in diesem Satz sind alle Buchstaben enthalten. Du musst …« Ich brabbelte das nach, was Papa mir beigebracht hatte,
und er hörte aufmerksam zu. Vielleicht konnte ich ihm gerade etwas Sinnvolles beibringen, was er selbst nie gelernt hatte. Er nahm sich das Blatt mit dem englischen Satz und prüfte, ob das stimmte, was ich gerade erzählt hatte: »Tatsächlich, in diesem Satz sind alle Buchstaben des Alphabets. Lass mich auch mal versuchen!« Ich machte ihm Platz, er fing an zu üben und es beruhigte mich, dass er genauso lange nach den Buchstaben suchen musste wie ich.
    Jassar blieb übers ganze Wochenende. Das bedeutete für uns Kinder, dass wir ausgelassen Spaß haben würden. Er tobte und spielte mit uns, er kitzelte uns, bis wir völlig ermüdet waren. Ich liebte es, wenn Jassar da war. In unserem alten Haus hatte er immer im Wohnzimmer auf der Couch geschlafen, aber hier im neuen Haus waren noch nicht alle Möbel da und in den Schlafzimmern im Erdgeschoss schliefen Ayeya, meine Tante Tita und die Hausangestellte.
    »Jassar, teil dir doch mit Khadra das Bett, im Wohnzimmer ist es doch viel zu unbequem«, schlug meine Mutter vor, denn mein Schlafzimmer hatte ein Doppelbett, das ich ganz für mich allein hatte, und ich freute mich, weil ich nun mit Jassar noch viel länger herumalbern konnte, während Nanna und Jamal schon schlafen mussten. Aber dann war ich doch so müde gewesen, dass ich gleich einschlief, noch bevor er kam.

Eine schreckliche Nacht
    Ich muss schon fest geschlafen haben, in Seitenlage, mit dem Blick durchs Fenster direkt in den tiefblauen, klaren Himmel, an dem ein Meer von Sternen funkelte. So schlief ich immer besonders schnell ein. Als ich eine Hand an meiner Schulter spürte, wachte ich auf. Jassar hatte sich zu mir gelegt und drehte mich langsam auf den Rücken. Ich blinzelte nur schlaftrunken, konnte
ihn aber im Mondschein erkennen. Wollte er mir vielleicht noch eine Geschichte erzählen? Nein, Jassar schwieg, ich hörte nichts, außer seinem schweren Atem. Er beugte seinen Kopf zu mir herunter, vergrub ihn an meinem Hals und küsste mich. Ich versuchte die Situation zu verstehen, doch ich verstand sie nicht, ich spürte nur, wie seine Hand zwischen meine Beine glitt. Ich zuckte zusammen, meine Hände krallten sich ins Bettlaken, ich hörte mein Herz klopfen, es raste, es

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