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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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fuhren nach Hause, packten alle eilig das Nötigste zusammen, und am späten Nachmittag kam ein Bekannter meines Vaters vorbei, der uns in sein Haus brachte, nur wenige Kilometer weiter in einem anderen Stadtteil. Es war ein Guerilla-Krieg, der in Mogadischu tobte, jedes Viertel wurde durch einen anderen Clan erobert oder verteidigt und beherrscht, und die Stadt war deshalb an verschiedenen Stellen unterschiedlich sicher. Die Straßen waren leer, so leer, dass wir keine Menschenseele sahen, bis wir am Haus des Bekannten ankamen. Auf dem Weg konnte man an einigen Wänden und Mauern die ersten Spuren der Unruhen sehen, sie waren teilweise eingefallen oder mit Löchern übersät.
    »Ihr dürft euch auf keinen Fall in den oberen Stockwerken aufhalten!«, warnte uns der Freund meines Vaters bei der Ankunft. »Seht mal«, sagte er und zeigte mit seinem Finger nach oben an die Außenwand. »Die Wände sind übersät mit Einschusslöchern. Wenn man da oben in den Schlafzimmern liegt, ist man tot.« Der Bekannte überließ uns ein kleines Zimmer im Erdgeschoss, in dem mehrere Hochbetten standen. »Hier habt ihr noch eine Petroleumlampe, es gibt keinen Strom. Ich hoffe, dass es heute Abend ruhig bleibt.«

Auge in Auge mit dem Tod
    Doch bereits einige Stunden später, es war schon dunkel, hörten wir die ersten Feuergefechte, erst weiter entfernt, dann immer lauter und näher, schließlich ganz nah. Plötzlich hämmerte jemand an unsere Tür.
    »Wer ist da?«, schrie mein Vater.
    »Ich bin es, macht schnell auf, ihr müsst hier raus!« Es war Papas Bekannter, der in Panik war. »Kommt, kommt, hier ist es zu gefährlich! Wir gehen in das Gebäude nebenan!«
    Mein Vater griff sich schnell noch die Petroleumlampe, meine Mutter nahm Chuchu auf den Arm, dann liefen wir geduckt hinter Papas Freund her in ein Nachbargebäude, die Treppe hinunter in den Keller. Ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn eine Bombe übers Haus zischte, mit dem Ton eines startenden Flugzeugs, nur noch etwas schriller. Kurz darauf krachte sie irgendwo rein, so heftig, dass der Boden unter unseren Füßen bebte.
    Der Keller war so groß wie ein Tennisplatz und auf der Erde standen vereinzelt Petroleumlampen, in deren schummrigem Licht ich viele Menschen sehen konnte, die mit gekreuzten Beinen auf der Erde hockten, ihre Oberkörper vor und zurück wiegten und Gebete sprachen. Sie wirkten abwesend. Wir schlängelten uns durch die Menge, bis wir einen kleinen Platz gefunden hatten, der noch frei war. Dann hockten wir uns hin. Mein Vater lehnte mit dem Rücken an einer Wand, an der oben ein kleines Fenster war, und ich setzte mich ihm gegenüber, um durchs Fenster nach draußen sehen zu können.
    Wieder schlug eine Bombe ein: ein dumpfer Laut, wie der einer Abrissbirne, die auf eine Mauer trifft. Der nächste Einschlag traf das Nachbarhaus, das ich durchs Fenster sehen konnte. Es krachte in sich zusammen und die Trümmer fielen immer weiter übereinander, sodass der Lärm nicht aufhören wollte und kaum auszuhalten war, bis das Haus in einer weißen Staubwolke untergegangen
war. Ich hörte, wie eine Frau schrie und Gott anflehte, sie am Leben zu lassen, dann schluchzte sie.
    In diesem Augenblick habe auch ich das erste Mal gedacht, dass wir jetzt sterben werden, wir warteten nur darauf, bis eine Bombe das Haus traf und wir unter dem Schutt begraben waren. Und dann spürte ich sie: Todesangst ist eine Angst, die du sofort erkennst und an der du keinen Zweifel mehr hast.
    Ich sah meinen Vater an: Er zitterte. Und ich weiß nicht, warum ich es tat und wie ich es fertigbrachte, aber plötzlich begann ich zu spielen. Auf dem Boden lagen überall Müllreste verstreut, ich nahm irgendetwas in die Hand und stellte mir vor, es sei eine Puppe, und ich redete mit ihr. Dann merkte ich, dass mein Vater mich anstarrte, meine Mutter, Nanna, Jamal und einige andere auch. Also spielte ich weiter und mit jedem Bombeneinschlag versank ich tiefer in mein Spiel. Irgendwann verstummten die Kanonen und der Morgen brach an. So unglaublich laut es in der Nacht gewesen war, so still war es jetzt. Und wir lebten, Gott hatte all die Gebete derer erhört, die ihn aus diesem Keller angefleht hatten, aber um uns herum war alles zerstört.
    Noch Jahre später, als mein Vater über die Nacht sprach, in der wir alle mit dem Leben abgeschlossen hatten, sagte er: »Mein Gott, Njunja. Du warst unser einziger Lichtblick. Ich habe dich nur angesehen und dachte, wie kann dieses kleine Mädchen keine Angst

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