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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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haben.« Aber er hatte sie mir nur nicht angesehen. Ich jedoch hatte seine Angst gespürt und versucht, sie ihm zu nehmen. Und noch heute kann ich das Leid anderer schlechter ertragen als mein eigenes.

Im Kreis der somalischen Familie
    Wir flüchteten in den nächsten Stadtteil, der noch von den Soldaten des Präsidenten verteidigt wurde und etwas sicherer schien.
Sheikh Sufi, hier stammte meine Mutter her. Alle Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen lebten hier Haus an Haus. Es war eine Welt für sich, eine Welt, die anders war, schöner, obwohl die Menschen arm waren. Keiner hatte viel, alles war rationiert, aber es war genug zum Leben und niemand musste hungern. Es gab viele Kinder in meinem Alter, die überall herumrannten und viel lachten, wenn sie etwas ausgeheckt hatten und ein Erwachsener ihnen fluchend hinterherlief. Die Mädchen hatten nur ein Kleidchen an, das ihre Mütter mit der Hand und ein bisschen Seifenpulver wuschen, wenn es gerade einmal genug Wasser dafür gab. Die Jungs trugen Shorts, manche auch ein T-Shirt dazu. Die meisten Kinder liefen ohne Schuhe herum, weil sich ihre Eltern nicht einmal Plastikschlappen leisten konnten, aber das war egal, barfuß lief es sich sowieso besser im warmen Sand. Ab und zu schnitten sie sich an Glasscherben die Füße auf, aber das konnten sie verkraften. Einige Familien hatten einen kleinen Verkaufsstand vor ihrem Haus, der aus einer Decke auf dem Boden bestand, und boten hier Getränkedosen, Lollis oder Kaugummis an. Meist dauerte es Wochen, bis die wenige Ware verkauft war, denn kaum einer konnte sich diesen Luxus jetzt noch leisten. Dennoch war immer etwas los und es wurde viel gefeiert. Jeder kannte jeden und schnell bekam man mit, ob ein Baby geboren worden war, ob geheiratet wurde oder ob es irgendeinen anderen Anlass zum Feiern gab, und egal wie wenig Geld die Familie auch besaß, man schaffte es irgendwie doch, ein Fest auszurichten, und alle waren eingeladen.
    Als wir mit dem Auto in das Dorf gefahren kamen, standen Frauen an ihren Haustüren, die ihre Babys auf der Hüfte hielten und uns anstarrten, manche bewundernd, manche skeptisch, andere lächelten uns einfach nur an. Wir waren die reiche Familie aus Deutschland, sie betrachteten uns als Fremde, und das waren wir auch. Viele Verwandte, und davon gab es hier unzählige, hatten mich und meine jüngeren Geschwister noch nie gesehen, weil wir die letzten Jahre in der ganzen Welt unterwegs gewesen waren
und jedes Kind in einem anderen Land geboren worden war. Ich war zwar in Somalia auf die Welt gekommen, aber schon kurz darauf waren wir nach London gereist, wo mein Bruder Jamal geboren wurde, dann nach Arabien, wo meine Mutter mit Nanna schwanger war, und zuletzt in die DDR, wo unsere Prinzessin Chuchu zur Welt gekommen war.
    Alle freuten sich, meine Mutter nach so vielen Jahren wiederzusehen. Sie war damals auch eine von ihnen gewesen, geboren und aufgewachsen in Armut. Auch sie hatte von der Hand in den Mund gelebt, auch sie war ohne Schuhe durch den Sand gelaufen, weil meine Oma sich für ihre vier Kinder keine Schuhe hatte leisten können. Durch die Heirat mit meinem Vater hatte meine Mutter die halbe Welt gesehen, aber nun war sie wieder hier, auf der Flucht vor Gewalt und Hass.
    Verwandte überließen uns sogar ihr kleines, bescheidenes Heim und zogen ein paar Häuser weiter. Unser neues Zuhause war winzig und gelb gestrichen. Es war mit einem großen, schwarzen, schweren Stahltor ausgestattet, das überhaupt nicht dazu passte. Drinnen lief man über einen kurzen Flur, von dem links ein düsterer Raum abging, das war das Badezimmer. Es gab darin keine Lampe, nur ein kleines Fenster in der Tür, sodass ein bisschen Tageslicht hereinschien, wenn die Eingangstür offen stand. Eine große blaue Plastiktonne stand im Bad. Sie war bis oben hin mit Wasser gefüllt und darin schwamm ein kleiner Plastikbecher, mit dem man das Wasser herausschöpfen konnte. Dieses Wasser musste so lange wie möglich reichen, um zu duschen oder sich nach dem Toilettengang zu waschen. Toilettenpapier gab es nicht, ein WC auch nicht, nur ein Loch im Boden. Gegenüber dem Badezimmer gab es noch zwei kleine Räume ohne Betten, dort lagen nur Matratzen auf dem Boden. Jamal, Nanna und ich schliefen zusammen in einem Raum und teilten uns zwei Matratzen, die das Zimmer vollständig ausfüllten, sodass nichts anderes mehr reinpasste. Meine Eltern teilten sich mit Chuchu das andere Zimmer.

    Die neue Umgebung und die vielen aufregenden

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