Das Mädchen, das nicht weinen durfte
unzertrennlich, und für mich war sie wie eine Zwillingsschwester.
Eine wichtige Entscheidung
Eines Tages teilte uns mein Vater etwas mit, was mich sehr beunruhigte.
»Wir werden von hier weggehen und nach England ziehen.« Er klang ziemlich entschlossen. Meine komplette Verwandtschaft, die sich vor dem Krieg hatte retten können, lebte in England und mein Vater hatte immer wieder erzählt, dass die meisten von ihnen schon längst die britische Staatsbürgerschaft bekommen hatten. Wir aber hatten immer noch nur die befristete Aufenthaltsgenehmigung und nach all den Jahren wollte mein Vater Sicherheit für sich und seine Familie, und die Verwandten hatten ihn immer wieder darin bestärkt, nach England zu kommen und dort sein Glück zu versuchen.
Ich machte mir große Sorgen, denn ich wollte Deutschland auf keinen Fall ein weiteres Mal verlassen. Es war meine Heimat, und ich konnte mir nicht vorstellen, schon wieder in einem fremden Land neu anzufangen. Außerdem ahnte ich, was mir bei meinen Landsleuten blühen würde. In letzter Zeit hatte meine Tante Halali oft mit meinem Vater telefoniert und ihn zu überreden versucht, mich endlich zu verheiraten. Sie hatte sogar schon einen Kerl für mich ausgesucht. Zum Glück hörte sich Papa das nur
an und amüsierte sich mit mir darüber, aber ich wusste, dass die Familie in England Druck machen würde und es mit dem bisschen Freiheit vorbei sein würde, die ich gerade gewonnen hatte.
Keiner wusste, wie lange es dauern würde, bis mein Vater seine Pläne umsetzen konnte, also zogen wir endlich erst einmal hier um, als sich die Gelegenheit ergab. Für eine sechsköpfige Familie, die von Sozialhilfe lebte, war es schwierig, eine Wohnung zu finden. Obwohl wir monatelang alles abgeklappert hatten, gab es nur Absagen. Aber irgendwann fanden wir über eine Zeitungsannonce eine Dreizimmerwohnung. Der einzige Haken daran war, dass sie Kilometer entfernt von meinem Job im Jeansladen in Bad Godesberg, Moritz’ Wohnung in Bonn sowie dem Cheerleadertraining in Bad Honnef lag. Ich musste im rheinischen Viereck Bus und Bahn fahren.
Diese Wohnung, unsere erste richtige Wohnung hier nach langer Zeit in Behelfsunterkünften, lag im 6. Stock eines Hochhaus-Ghettos und schon bald stellte sich heraus, dass die Fahrerei zu viel war und ich meinen Job im Jeansladen gegen einen Kellnerjob in einem Bistro im nahen Einkaufscenter tauschen musste. Ich arbeitete etwa dreimal pro Woche nach der Schule von 15 bis 21 Uhr dort und verdiente 5 Mark in der Stunde. Papa war stolz zu sehen, dass ich unabhängig war und mein Ding durchzog: Zumindest um mich brauchte er sich also keine Sorgen mehr zu machen. Meine Geschwister litten sehr unter der Situation daheim und gerieten außer Kontrolle. Jamal war kaum zu Hause und keiner wusste, wo er sich herumtrieb. Zur Schule ging er schon lange nicht mehr, und er stritt sich deshalb dauernd heftig mit meinem Vater. Manchmal tauchte er tagelang nicht auf, ohne sich nur ein einziges Mal zu Hause zu melden. Es war ziemlich schwierig, an ihn heranzukommen. Und wenn man ihn falsch ansprach, wurde er aggressiv und fing an zu schreien. Nanna flüchtete sich in ihren Freundeskreis und rebellierte, wenn jemand versuchte, mit ihr zu reden. Obwohl sie erst 13 Jahre alt
war, machte sie, was sie wollte, vernachlässigte die Schule und trieb sich bis Mitternacht rum, ohne dass jemand wusste, wo sie steckte. Das beunruhigte meine Eltern sehr und sie machten sich große Sorgen, aber Nanna hörte auf niemanden und wenn ich versuchte, mit ihr zu reden, dann artete es in Streit aus, manchmal fochten wir es sogar mit Fäusten aus.
Durch den Umzug in unsere neue Wohnung wurden die Geldsorgen meines Vaters auch nicht weniger, und er war ständig verzweifelt, weil er irgendwelche Rechnungen nicht bezahlen konnte. Das Geld, das wir vom Sozialamt bekamen, ließ er sich bei der Bank in Zehnmarkscheinen ausbezahlen, damit er einen besseren Überblick darüber behielt. Wie schon damals in Ägypten passten wir bei jedem Einkauf auf, dass wir pro Tag nicht mehr als 10 Mark ausgaben. So reichte das Geld sicher bis zum Ende des Monats.
Aber oft sah ich ihn ganz allein auf der alten Couchgarnitur sitzen, vor sich die Plastikblumen auf dem Tisch und über sich Fotos an der Wand, die ihn als Diplomaten im edlen Anzug auf Empfängen zeigten, wie er allen möglichen Staatsoberhäuptern die Hand gab. In unserer Situation empfand ich die Fotos als wertlos, weshalb ich sie mir nie angeschaut
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