Das Mädchen, das nicht weinen durfte
langsam, denn mein Vater hatte bereits Visa für England beantragt.
Der Umzug von Deutschland nach London war ein schleichender Prozess, aber irgendwann im Jahr 1996 reisten zunächst meine
Mutter und Chuchu zu Verwandten nach London ab, danach Nanna und Jamal.
»Nein! Ich gehe nicht nach England!«, erwiderte ich jedes Mal, wenn mein Vater davon anfing. »Aber du kannst doch nicht allein hier zurückbleiben«, hielt er dagegen. »Doch, kann ich! Ich suche mir eine Arbeit, du wirst sehen, ich finde schon was!« Ich war kaum 16 Jahre alt und wusste tatsächlich überhaupt nicht, wie ich das alles hier allein bewältigen wollte, aber Papa merkte zumindest, dass es mir ernst war und dass er keine Chance hatte, mich umzustimmen. Wir hatten so viel gemeinsam erlebt und durchgestanden, dass er wusste, dass ich damit klarkommen würde.
»Okay, wenn du eine Arbeit findest, darfst du bleiben.« Jeden Tag drängte er mich, Bewerbungen zu schreiben. Aber es sollte noch eine Zeit lang dauern, bis auch er als Letzter auswandern würde. In den darauffolgenden Monaten suchte er in London eine Wohnung und ich genoss meine neue Freiheit und die Zeit allein in unserer Wohnung in Deutschland. Da ich mit der Schule fertig war, sahen meine Tage so aus: Ich schlief lange, ab Mittag kellnerte ich, danach traf ich Tina und schließlich fuhr ich zu Moritz. Das Bistro, in dem ich bediente, war der Treffpunkt des Ortes und so lernte ich nach und nach alle möglichen Leute kennen. Irgendwann bot mir ein Typ einen Wochenendjob in einer Disco in Bonn an, in der er als DJ auflegte. Es war ganz in der Nähe von Moritz’ Wohnung, und so stellte ich mich dem Chef vor. Er war Araber und ging mir etwa bis zur Brust, auf die er auch die ganze Zeit starrte, während er mit mir sprach. Er machte keine Anstalten, seinen gierigen Blick zu zügeln, und grinste dabei auch noch genüsslich. Er widerte mich an, aber der Job reizte mich.
»Du bist freitags ab 21 Uhr hinter der Theke, um 22 Uhr ist Einlass der Gäste. Wir schließen um 5 Uhr, dann machst du die Theke sauber und hast Feierabend.«
»Wie ist der Stundenlohn?«, fragte ich mutig. Wieder glitt sein Blick von unten an mir hoch. »Ich zahle normalerweise 10 Mark die Stunde, du kriegst 15!« Ich wäre vor Freude fast in die Luft gesprungen, aber ich blieb cool: »Alles klar.« Während ich zu Moritz lief, begann ich zu rechnen und sprach dabei laut vor mich hin: »21 bis 5 Uhr, das sind acht Stunden, das sind 120 Mark an nur einem Abend, plus das Geld, das ich im Café verdiene. Ich werde Millionärin!«
Beziehung leben lernen
Moritz machte mich sehr glücklich. Er wusste wenig von mir und meinem Leben, weil ich kaum etwas erzählte, aber ich klammerte mich an unsere Liebe, weil er mir die Geborgenheit gab, die ich jetzt sehr brauchte. Eines Nachmittags saß ich auf dem Sessel und er lag auf der Couch, als sie in den Nachrichten über einen Sexualstraftäter berichteten, der kleine Mädchen missbraucht hatte. Moritz regte sich über diesen Verbrecher auf.
»Ich verstehe nicht, wie ein Mensch zu so etwas fähig sein kann.« Als er sich zu mir umdrehte, liefen mir die Tränen nur so. »Hey, Schatz, was ist mit dir los?« Er kam zu mir und nahm mich in den Arm, aber ich hörte gar nicht mehr auf zu weinen. »Was ist los mit dir?«, fragte er sanft. Erst jetzt begann ich ihm davon zu erzählen, was ich seit Jahren mit mir herumgeschleppt und noch niemandem gesagt hatte, aber ich war noch nicht so weit, detaillierter mit ihm darüber zu sprechen. Moritz erfuhr nur, dass Jassar mir etwas Schreckliches angetan hatte. Und nachdem ich mich das erste Mal etwas geöffnet hatte, vertraute ich ihm von nun an mehr denn je und war so froh, dass er in meinem Leben war. Ich war mir sicher, dass er mich niemals verletzen würde. Es war schön, einfach nur in seinen Armen zu liegen, dass mir manchmal vor Glück die Tränen kamen. Das hatte ich noch nie erlebt.
Weil ich jetzt noch öfter mit ihm zusammen war und bei ihm übernachtete, lernte ich ihn mit der Zeit auch besser kennen, aber leider wurden mir dabei auch einige Dinge klar, mit denen ich nur schwer zurechtkam: Ich stellte fest, dass Moritz viel mehr kiffte, als ich vermutet hatte. Am Anfang unserer Beziehung hatte ich geglaubt, er hätte dieses Thema unter Kontrolle, aber er hatte das Haschisch einfach geraucht, nachdem ich abends nach Hause gefahren war. Jetzt hatte ich den Schlüssel zu seiner Wohnung und oft, wenn ich nach dem Tanztraining zu ihm
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