Das Mädchen, das nicht weinen durfte
hatte. Erst als Tina einmal bei uns zu Besuch war, fielen sie mir richtig auf.
»Krass, da ist ja dein Vater mit der Queen drauf!«, rief sie, während ich meinen zweiten Schuh suchte, weil wir gleich aufbrechen wollten.
»Wo?«, fragte ich ungläubig und kam ins Wohnzimmer, wo sie die Fotos anstarrte.
»Na, da gibt er doch der Queen die Hand.« In solchen Situationen wurde mir besonders deutlich, warum mein Vater oft so traurig war. Ein war ein intelligenter, reicher und sehr angesehener Mann gewesen, der sieben Sprachen sprach und schon in der ganzen Welt gelebt und gearbeitet hatte, der große Häuser für seine Kinder gebaut hatte, damit sie später darin leben konnten
und abgesichert waren. Noch heute erzählen seine Freunde, die Obländers, gern, wie mein Vater einst in einem giftgrünen Cadillac Cabrio vorgefahren war, um sie auszuführen. Aber jetzt lebte er in einem Ghetto und all das, was er mal gewesen war, existierte nur noch in der Erinnerung. Das Elend führte sogar dazu, dass er sich von seinen Freunden abschottete. Es brach mir das Herz, dass ich ihm überhaupt nicht helfen konnte, außer mit ein bisschen von dem Geld, das ich verdiente. Um der Trauer zu entkommen, flüchtete auch ich sooft wie möglich in meine neue Welt mit Moritz und Tina.
Ab und zu ging ich mit meinem Vater noch zum Sozialamt, wenn wir einen Krankenschein brauchten oder sonst irgendetwas beantragen mussten. Wir hatten schon genug Erfahrungen mit den Sachbearbeitern gemacht, aber unser neuer Betreuer war ein so schlechter und herzloser Mensch, dass ich ihn nie vergessen werde. Es fing schon mit der Art an, wie er uns und die anderen Hilfeempfänger in sein Zimmer rief. Weil er seine Tür immer offen stehen ließ, konnte jeder in der langen Schlange davor mitbekommen, worum es drinnen ging. So etwas wie Diskretion gab es hier nicht, im Gegenteil, manchmal schrie der Sachbearbeiter die Leute so laut an, dass auch die Wartenden draußen zusammenzuckten.
»Na, Frau Sufi, wovon leben Sie denn ohne Geld, von Luft und Liebe?«, blaffte er mich mal an. Und dann grinste er. Ich bin sicher, dass nicht nur ich ihn gehasst habe, so sehr, dass ich lieber nicht zum Arzt ging, als mir bei ihm einen Sozialamts-Krankenschein zu holen. Mein Vater aber war immer ganz kleinlaut, wenn er seine Papiere bei ihm einreichte oder unsere Aufenthaltserlaubnis verlängert werden musste. »Staatenlos« stand in unseren hellgrauen Reisedokumenten als Staatsangehörigkeit, und diesen Status ließ uns der Sozialamtsbeamte auch fühlen.
Ich war mittlerweile in eine Realschule versetzt worden, weil ich auf dem Gymnasium zu viele Fehlstunden hatte, was sich auf
meinen Notendurchschnitt auswirkte. Nach der 10. Klasse konnte ich also abgehen, und kurz bevor ich damit fertig war, geriet ich in Panik. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte, falls ich tatsächlich allein in Deutschland zurückbleiben wollte, denn das hatte ich damals schon vor. Dann bekam ich einen Brief, in dem ich zum Sozialamt zitiert wurde. Der Sachbearbeiter blickte mich nicht mal an, während er mit mir sprach: »Frau Sufi, Sie sind mit der Schule fertig und haben genug Sozialhilfe kassiert. Gehen Sie mal ins Zimmer gegenüber, der Kollege kann Ihnen helfen, eine Arbeitsstelle zu finden!« Ich bekam einen Zettel mit einer Adresse, zu der ich am nächsten Tag hingehen sollte. Es war eine Fleischfabrik, aber mir war zu diesem Zeitpunkt alles egal. Hauptsache, ich musste nie wieder von irgendwelchen Mitarbeitern des Sozialamts abhängig sein. Eine mollige Frau bat mich in der Fabrik in ihr Büro. »Sie sind Frau Quadar?«
»Nein. Sufi. Frau Khadra Sufi«, korrigierte ich vorsichtig.
»Und Sie wurden vom Sozialamt hierher geschickt, ja?«
»Ja. Ich soll mich hier um eine Arbeitsstelle bewerben.«
»Haben Sie einen Schulabschluss?« Ich reichte ihr mein Abschlusszeugnis, das sie sich aufmerksam ansah. »Dann gehen Sie doch bitte wieder zurück zum Sozialamt und sagen Sie demjenigen, der Sie hierhergeschickt hat, dass ich Sie nicht einstellen werde!« Ich blickte sie erschrocken an. »Die sollen Ihnen lieber einen Ausbildungsplatz vermitteln! Sie haben einen vernünftigen Schulabschluss, und den haben Sie bestimmt nicht gemacht, um in einer Fleischfabrik zu enden. Wenn die Probleme machen, können die mich ruhig anrufen, dann sage ich es denen noch mal persönlich!« Innerlich grinste ich und bedankte mich. Dann nahm ich mir vor, mir selbst eine Lehrstelle zu suchen, aber die Zeit drängte
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