Das Mädchen, der Koch und der Drache: Roman (German Edition)
einem Bein herum, hält sich mit der Hand ein Auge zu und ruft aufgeregt nach einem Arzt. Dann reißt er die Hintertür auf.
»Was ist mit dir, Meister Lin?«, ruft Mendy ihm hinterher.
»Siehst du das nicht? Ein Desaster! Ich muss sofort ins Krankenhaus.« Lin wirft die Tür mit einem Knall hinter sich zu und verschwindet.
Mendy bahnt sich einen Weg durch Essensreste und Scherben, um das Gas am Herd abzustellen. Dann gießt sie Wasser in die Pfanne, damit der verbrannte Inhalt sich nicht festsetzt. Sofort steigt eine beißende Dampfwolke auf und bringt sie zum Husten. Sie wendet den Kopf ab, wischt sich mit dem Ärmel die tränenden Augen, dann kümmert sie sich um Tubai.
»Vorsicht! Die Fliesen sind schlimmer als Glatteis«, warnt Tubai und stöhnt auf. »Ausgerechnet heute passiert mir so was Dummes!« Er versucht, sich aufzusetzen, was ihm offenbar große Schmerzen bereitet.
»Ich hab meinem Vater schon immer gesagt, dassder Boden gefährlich ist.« Mendy hat Tubai noch nie jammern hören. Hat er sich beim Fallen verletzt? »Bleib liegen, Tubai. Ich fege erst mal die Scherben beiseite. Sonst schneidest du dich womöglich noch.« Sie läuft in Richtung Besenkammer. Da merkt sie auf einmal, dass Oswald hinter ihr steht. Er muss ihr in die Küche gefolgt sein. Das passt ihr überhaupt nicht.
»Oswald, geh bitte zurück ins Lokal. Ich komme gleich zu dir, ja?«, sagt sie. »Du bist unser Gast.«
»Lass mich doch helfen!«, sagt Oswald und fängt an, die heil gebliebenen Teller und das Besteck aufzuheben.
Mendy sagt nichts mehr, sondern wirft ihm nur einen dankbaren Blick zu. Ihr fällt auf, dass ihm das dunkelblaue Seidenhemd und die schwarze Jeans gut stehen. Ein hübscher Mann – und er liebt mich, schießt es ihr durch den Kopf, und sie errötet. Welch ein absurder Gedanke! Weg damit! Sie muss sich um die Küche kümmern. Sie holt den Besen heraus und beginnt hastig, die Scherben beiseitezufegen.
Während die beiden Helfer Tubai aufrichten, verzieht dieser vor Schmerz das Gesicht. Er hat sich offensichtlich den Arm geprellt. Als ihm Mendy ein Handtuch gibt, damit er sich säubern kann, bemerkt sie fragende Gesichter hinter der offenen Durchreiche. Sie geht ins Lokal und beruhigt die Gäste.
Hastig flüstert Mendy der anderen Kellnerin etwas ins Ohr, dann nimmt sie beiläufig ein paar geleerte Gläser mit und geht zurück in die Küche. Oswald und Tubai sind immer noch dabei, aufzuräumen. Jetzt muss sie schnell handeln, sonst gibt es Ärger und dasLokal verliert Gäste. Den Vater wird sie nicht noch einmal anrufen, der war eben schon wenig hilfreich. Sie eilt ins Büro.
Über zwei Ersatzköche verfügt die Strahlende Perle schon lange. Aber der eine macht gerade Heimaturlaub in China, und beim anderen erreicht Mendy nur die Ehefrau. Ihr Mann sei zum Baumarkt gefahren und werde wahrscheinlich erst in einer Stunde wieder zu Hause sein, sagt sie.
Aber Mendy braucht jetzt sofort jemanden. Soll sie einen neuen Koch ausprobieren? In der Chinesischen Handelszeitung wimmelt es von Anzeigen Arbeit suchender Köche. Aber ein fremder Koch muss eingearbeitet werden. Für eine solche Krisensituation ist er nicht zu gebrauchen. Was soll sie jetzt machen? Die hungrigen Gäste mit leerem Bauch nach Hause schicken und das Restaurant schließen? Nein. Sie hat noch ihren Vater, der gar nicht schlecht kochen kann und die Speisekarte seines Restaurants in- und auswendig kennt. Mendy greift erneut nach dem Telefon.
Ein paar Minuten später nimmt Mendy den Vater an der Hintertür in Empfang. Zu ihrer Überraschung hat er noch einen Begleiter: den Goldenen Drachen, der unbedingt mitkommen wollte, um das »Imperium« von Boss Guan kennenzulernen, wie er sich ausdrückt.
Der Vater ist empört über Koch Lin. »Dieser Drückeberger nutzt jeden Anlass«, knurrt der Restaurantbesitzer leise, damit es der Goldene Drache nicht hört. »Morgen kommt er bestimmt mit einem dicken Verband und meldet sich krank.«
»Nun ja, hoffen wir, dass mit seinem Auge nichtsSchlimmes ist«, sagt Mendy leise.
»Das ist Boss Hong«, sagt der Vater zu Mendy. »Ein tüchtiger Geschäftsmann aus Singapur. Mendy, sag Onkel zu ihm.«
Mendy ist froh, dass sie den Mongolen wenigstens nicht Bruder nennen muss. »Guten Abend, Onkel Hong«, sagt sie brav zur Begrüßung, wendet sich jedoch sofort von dem neuen Onkel ab. Für höfliche Konversation hat sie jetzt keine Zeit. Sie greift nach dem Arm ihres Vaters, zieht ihm die Jacke aus und bindet ihm eine
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