Das Mädchen, der Koch und der Drache - Roman
Punkte hast du gesammelt, du Niete?«, ruft der Kumpel des Räubers Michael über die Schulter zu, als der sich keuchend nähert.
»Wir haben dir ganz schnell hundert Punkte dazugeschaufelt, du Rotznase. Kannst du nicht mal Danke sagen?«, lacht der Räuber überlegen, weicht Michaels greifender Hand aus und schlägt einen Haken. Passanten glauben, die Jugendlichen spielen miteinander, und schenken ihnen keine Beachtung.
Michael nimmt die Verfolgung erneut auf. Er ist aber nicht besonders sportlich, sondern eher ein bisschen tollpatschig. Der Rucksack, der wie ein Berg auf seinem Rücken hin und her schlingert, macht ihm zu schaffen. Er keucht und prustet und muss mehrmals haltmachen, um Luft zu schnappen. Als er merkt, dass er in einen menschenleeren kleinen Park geraten ist, überkommen ihn Panik und Wut. Er weiß nicht, ob er sein Spielzeug jemals zurückkriegen wird.
»Scheißkerle! Affenärsche seid ihr!«, brüllt er und stützt die Hände auf seine Knie.
Auf einmal kommen die Straßenräuber zurück. Michael spürt die Aggressivität seiner Gegner und will zur Straße zurückflüchten. Dort sind viele Leute unterwegs. Dort fühlt er sich sicher. Doch lange bevor er die Straße erreicht, packen die Gegner ihn an den Armen und zerren ihn in ein Gebüsch. Mit ein paar Hieben bringen sie ihm bei, ruhig zu bleiben.
»Du willst unbedingt deine Belohnung haben, nicht wahr, du Geizhals? Hier hast du sie.« Der Junge, der ihm das Gerät aus der Hand gerissen hat, holt ein Hühnerei aus seinem Rucksack. Sein Kumpel presst Michaels Kiefer zusammen und zwingt ihn, den Mund aufzumachen. Dann schiebt ihm der andere das Ei in den Mund.
»Wehe, wenn du es zerdrückst!«, droht der Räuber. Sie schubsen und schütteln ihn und klopfen ihm auf die Wangen. Sie stecken die Finger in seinen Mund und schieben das Ei noch ein bisschen weiter nach hinten. Michael röchelt und würgt. Er hat das Gefühl, zu ersticken. Ein unerwarteter Stoß zwischen die Beine lässt ihn zusammenklappen und ins modrige Laub fallen. Als er sich wieder aufrappelt, sind seine Peiniger verschwunden. Nur die blasse Nachmittagssonne strahlt unverändert vom Himmel.
Yeye stößt einen Laut der Überraschung aus, als sich ihr Sohn in die Wohnung schiebt. Sie lässt das Rechnungsbuch auf den Tisch fallen und läuft auf ihn zu. »Was ist mit dir los? Was reißt du den Mund so weitauf?«
Aber Michael gibt keine Antwort. Auch nicht, als die Mutter ihm den Rucksack abnimmt und Blätter und Grashalme von seiner Jacke abzupft. »Hast du dich wieder geprügelt? Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst fleißig lernen und dich von aggressiven Jungs fernhalten!«
Der schmächtige Michael bleibt weiter stumm. Da sein Mund immer noch weit aufgerissen ist, sieht es aus, als stieße er stumme Schreie hervor. Panik ergreift seine Mutter. Sie zerrt an ihm herum, zieht sein Hemd hoch, wirft einen Blick auf seinen Rücken, drückt auf seine Brust und macht dazu »Ah, ah«. Der Sohn lässt alles über sich ergehen, spricht aber immer noch nicht.
»Michael, sprich endlich, sag wenigstens ›Mama‹ zu mir«, fleht Yeye ihren Sohn an und kann die Tränen kaum unterdrücken. Sie tastet mit der Hand vorsichtig an Michaels Unterkiefer herum, dann befiehlt sie ihm, ruhig zu bleiben – was überflüssig ist. Mit der einen Hand hält sie den Kopf des Verstummten fest, mit der anderen drückt sie das Kinn hoch. Es gibt einen Ruck, und der Kiefer knackt hörbar, dann ist Michaels Mund zugeklappt. Erleichtert tätschelt ihm die Mutter die Wangen. »Also, es war nur der Kiefer ausgehakt. Jetzt ist alles wieder in Ordnung.«
Kaum zieht die Mutter die Hände zurück, lässt der Sohn den Kopf hängen und steuert auf sein Zimmer zu. Da wird die Mutter ungeduldig. »Halt. Sag mir erst, was passiert ist«, befiehlt sie.
Endlich beginnt der Sohn zu stottern. »Ei, Ei …groß«, antwortet er röchelnd. Dann beginnt er zu würgen. Dass die Mutter chinesisch spricht und der Sohn auf Deutsch antwortet, ist keine Seltenheit im Haus.
Die Augen der Mutter folgen dem Sohn, der auf seinen Hals zeigt und dann ein verzerrtes Gesicht macht. »Wieso sprichst du in Rätseln? Ich habe dir heute doch gar kein Ei in die Brotbox getan. Oder willst du vielleicht ein Ei essen?«, fragt die Mutter.
Der Sohn sagt nichts mehr. Er bleibt verstört im Wohnzimmer stehen. Seine Blicke irren durch den Raum, als wäre ihm die Wohnung vollkommen fremd. Die Mutter hält bestürzt die Hand vor den Mund und rennt
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