Das Mädchen, der Koch und der Drache - Roman
wie ein Familienangehöriger empfangen. Yeye schiebt ihm den Sohn, den sie heute zu Hause behalten hat, förmlich entgegen und sagt ihm, er solle Onkel Tubai die Hand geben. Der Sohn wirkt zwar immer noch verstört, zeigt jedoch ein kleines schüchternes Lächeln, als er Tubai erkennt. Die beiden gehen ins Kinderzimmer und beginnen zu spielen.
Nun muss sich Yeye um andere Dinge kümmern. Ihr steht nämlich selbst eine schwere Bewährungsprobe bevor.
Nachdem Yeye bei allen Banken angeklopft und alle Freunde genervt hat, sieht sie nur noch eine Möglichkeit, das Geld für die Kaution aufzutreiben. Sie zieht ihr schönstes Kleid an und ein Paar elegante Pumps und verlässt im Dunkeln die Wohnung.
Es ist jetzt schon Ende April. Es ist wärmer geworden. Unterwegs sind Mädchen mit kurzen Röcken zu sehen. Doch Yeye hat dafür kein Auge. Das Autofahren strengt sie an. Obwohl sie seit Langem den Führerschein besitzt, fühlt sie sich im Straßenverkehr nicht mehr sicher. Sie wirft nervöse Blicke um sich und fürchtet sich ständig vor einem Unfall. Zum Glück ist der Weg nicht allzu lang.
Als sie bei Boss Hong klingelt, befindet dieser sich gerade im Gespräch mit zwei Landsleuten. Die geleerten Teetassen und die mit Zigarettenstummeln gefüllten Aschenbecher deuten darauf hin, dass sie schon eine ganze Weile geredet haben. Yeye ist überrascht, andere Gäste im Haus vorzufinden, und fragt gleich an der Tür, ob sie etwa zu früh gekommen sei. Nein, nein, sagt Boss Hong, sie komme gerade zum richtigen Zeitpunkt. Er bittet sie, einzutreten, stellt sie aber den Männern nicht vor. Trotzdem spürt die Frau, wie sie aus den Augenwinkeln gemustert wird.
Das Zimmer ist riesengroß. Würde man die Möbel wegräumen, so könnte man denken, es wäre ein Ballsaal. Während der Goldene Drache seine Besucherin zu einem Sofa führt, von dem aus man einen herrlichen Blick auf die Spree hat, räumen die Männer den Tisch ab, an dem sie gesessen haben. Einer kommt mit einer Kanne und serviert Yeye grünen Tee, dann verlassen sie nacheinander den Raum. Yeye wundert sich, dass sie sich Boss Hong gegenüber so gehorsam und demütig verhalten, als wären sie seine Angestellten. Und warum drehen sie beim Abschied alle ihre Hand mit der gleichen Bewegung? Ist das ein Geheimzeichen?
Als sie allein sind, setzt sich Boss Hong neben Yeye auf das Sofa und macht ihr ein Kompliment. Sie sehe heute so jung aus, man könne sie fast für eine Studentin oder gar Abiturientin halten. Er könne sich vorstellen, dass sie schon viele Männerherzen gebrochen habe …
Yeye kichert und lässt ihre Brust zittern. Wie lange hat sie solche Komplimente schon nicht mehr gehört? Zu lange, viel zu lange. In der Gegenwart dieses Mannes fühlt sie sich endlich wieder wie eine Frau und nicht wie eine Schlingpflanze, die nicht in der Lage ist, allein zu leben, wie ihr Mann immer sagt.
Während er ihr Komplimente macht, streckt Boss Hong plötzlich den Zeigefinger herüber und streichelt damit ihren Arm, als könne er ihrer Anziehungskraftnicht widerstehen.
Yeye blinzelt verwirrt mit den Augen. So schnell soll es gehen? Sie hat gedacht, sie müsse all ihren Charme und ihr Können aufbieten, um den Goldenen Drachen für sich einzunehmen. Nun gut, wenn er sie verführen will, umso besser. Geschmeichelt wendet sie ihm das Gesicht zu. In blumigen Formulierungen beginnt sie von seinem Aussehen und seinem Reichtum zu schwärmen und kommt schließlich auf sein großzügiges Angebot, ihr und ihrer Familie zu helfen, zu sprechen. Es sei gar nicht viel, worum sie ihn bitte. Aber sie wisse sich einfach nicht mehr anders zu helfen in ihrer Not. Die Kaution sei für ihn ja nur eine kleine Summe, ein winziger Tropfen aus seinem goldenen Meer, doch dieser Tropfen könne ihrer Familie das Leben retten. Natürlich wolle sie seine Großzügigkeit auch mit hohen Zinsen belohnen …
»Wie viel brauchst du?«, fragt er mit einem charmanten Lächeln, als wolle er wissen, ob sie in ihn verliebt ist. Er rückt etwas näher und beginnt mit ihren Haaren zu spielen. Zwischen ihnen könnte gerade noch eine Faust Platz finden.
Yeye spürt den Atemzug des Mannes, spürt seinen Blick, der ihr unter die Haut geht und sie anheizt. Sie beginnt tief zu atmen. Ihre Lippen bewegen sich mehrmals, bis sie die Summe aussprechen. Dabei schaut sie ihn flehend an.
»Aha«, grinst der Mann. »Eine kleine Frau mit großem Appetit.« Aber sein Gesichtsausdruck zeigt, dass das Gespräch für ihn
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