Das Mädchen, der Koch und der Drache - Roman
die Küche, um ihr ein Glas Wasser zu geben, da betupft sich Yeye die rot angeschwollenen Augen mit einem Taschentuch und fängt an zu jammern. Obwohl ihre Sätze immer wieder von Schluchzen und Schimpfen unterbrochen werden, weiß Mendy bald, was passiert ist.
Ihr Vater scheint in der Haft einen zweiten Schlaganfall erlitten zu haben. Als er heute aufwachte, konnte er sein linkes Bein nicht mehr bewegen und musste auf die Krankenstation gebracht werden. »Mendy, wir müssen deinen Vater da rausholen!«, sagt Yeye keuchend und schreiend und lässt sich nicht beruhigen. »Er isst kaum etwas, liegt einfach nur da und starrt in die Luft. Ich fürchte, er ist in eine tiefe Depression gefallen und will sich etwas antun. Der Anwalt hat von Selbstmordgedanken gesprochen. Mendy, verkauf alles, auch mich, damit nur dein Vater nach Hause kommt.« Sie bricht erneut in Schluchzen aus.
Mendy geht auf und ab wie ein gefangenes Pantherweibchen, ohne etwas zu sagen.
»Oder redest du vielleicht noch mal mit Boss Hong?«, fragt Yeye vorsichtig. »Mir hat er gesagt, er hat die Tür zu dir nicht zugeschlagen. Wenn du zu ihm gehst und ihn um Hilfe bittest …«
»Ich möchte nichts mehr von Boss Hong hören«, erwidert Mendy. Doch ihr Gesicht ist blass wie Papier, und ihr Gang ist der einer blutenden Antilope. Ihre Freundin ist nur ein paar Hundert Meter von der Stelle gestorben, wo sie mit dem Goldenen Drachen im Bett lag, das weiß sie inzwischen und wagt nicht, daran zu denken.
»Wenn dein Vater weg ist, sind wir alle verloren. So wie die Regenwürmer auf der Straße werden wir von anderen zertreten, und niemand trauert uns nach. Verstehst du das nicht, Kind?«
»Lass mich bitte allein.« Mendy beißt sich auf die Lippen, um nicht loszuweinen. Sie merkt nicht, dass ihre Lippen, die gerade geheilt sind, wieder zu bluten anfangen.
Am Nachmittag findet die Trauerfeier für Peipei statt. In einem gemieteten Raum treffen dreißig Kommilitonen und Freunde zusammen, um von ihr Abschied zu nehmen. Da Peipeis Eltern selbst nicht nach Deutschland kommen können, haben sie einen Neffen, der gerade ein Auslandssemester in England verbringt, als Vertreter der Familie geschickt. Dass Peipei bei ihrem letzten Gang auf fremdem Boden doch noch von einem Familienangehörigen begleitet wird, findet Yulin sehr tröstlich. Denn sie macht sich bittere Vorwürfe, weil sie sich nicht genug um ihre Freundin gekümmert hat, als Peipei noch lebte.
Mendy erscheint mit schwankenden Schritten und geschlossenen Lippen. Sie schüttelt allen die Hände, doch ihr Geist scheint abwesend zu sein. Den Cousin von Peipei nimmt sie kaum wahr, obwohl dieser mehrmals Blickkontakt mit ihr sucht. Als sie von Peipeis Leichnam Abschied nimmt, hat sie plötzlich das Gefühl, dass tief aus den dunklen Augenhöhlen der Freundin zwei würfelgroße, pechschwarze Pupillen sie anstarren. Sind das nicht die Augen des Totengottes Jama, die Ausschau nach ihr halten? Mendy fährt hoch. Nein, die Freundin sieht friedlich und jung aus. Ihre Lider sind fest geschlossen, von Todesangst, Schmerz und Verstümmelung ist nichts mehr zu sehen. Das Bestattungsunternehmen hat gute Arbeit geleistet.
Als die Zeremonie vorbei ist, nimmt Yulin ihre kleine Eisenschwester beiseite und legt ihr die Hand auf die Stirn. Zum Glück hat sie kein Fieber. Als Yulin fragt, ob sie sich nicht wohlfühle, antwortet Mendy, sie sei nur überarbeitet. Wenn sie sich ausgeschlafen habe, werde alles gut sein.
Abends sitzt Mendy in ihrer Wohnung und starrt in den Hof. Die beiden Linden dort haben schon alle Blätter. Bei jedem kleinen Wind tanzen die Äste sanft auf und nieder, als könnten sie nicht genug davon kriegen. Mendy betrachtet das zarte Grün und weiß doch nicht, was sie gesehen hat. Irgendwann wischt sie sich die Tränen ab. Dann greift sie zum Telefon.
»Stiefmutter Yeye«, sagt sie mit heiserer Stimme. »Ich werde heute Abend Boss Hong besuchen. Sag bitte nichts, lass mich aussprechen. Wenn du bis Mitternacht noch nichts von mir gehört hast, dann schalte die Polizei ein. Aber wenn Boss Hong uns nun doch hilft, dann möchte ich, dass ihr mir die Strahlende Perle schenkt.«
»Das Restaurant gehört deinem Vater. Aber ich bin sicher, er wird dir den Wunsch nicht abschlagen«, sagt Yeye schmeichelnd. Sie erinnert sich ganz genau, dass sie das Restaurant schon dem Goldenen Drachen versprochen hat. Aber daran will sie jetzt nicht denken. »Bitte tu bei Boss Hong nichts Unüberlegtes, mein Kind«, sagt
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