Das Mädchen in den Wellen
ein Lachen. Es freute sie, Ella aus der Fassung gebracht zu haben.
»Das zahl ich dir heim.«
»Schau«, versuchte Annie sie abzulenken. Ein Tümmler sprang am äußeren Ende der Bucht in einem perfekten Bogen aus dem Wasser. Ein weiterer folgte, dann noch einer. Annie zählte insgesamt vier, genauso viele, wie es Menschen in ihrer Familie gab oder in der Familie, wie sie früher gewesen war.
Ella lotste sie zu einem Riff, auf dem es von Seeanemonen, Seesternen, Krebsen und Fischen nur so wimmelte. »Ein Unterseegarten.«
Hier lebte ein weiterer Aal. Herr Aal, nannte Annie ihn. Sie gab vielen der Wesen hier Namen. Anabelle, die größte Seeanemone, winkte mit ihren hübschen fahlgrünen Tentakeln in der Strömung. Carleton der Krebs klapperte mit den Scheren wie mit Kastagnetten; er war so groß wie ein Salatteller und hatte einen leuchtend roten Panzer mit einem auffälligen Fleck an der Oberseite. Stella der Seestern war rau und lila wie Traubensaft.
Die Mädchen ruderten fast eine Stunde lang, bis ihre Arme schmerzten und sich an ihren Händen Blasen bildeten. Owen, der von einem Felsen aus die Angel auswarf, behielt sie im Auge. Er bewegte sich im Takt mit den Wellen, als würde er jede Bewegung der See und der Fische darin erspüren. Ella tat, als wäre er nicht da. Annie winkte ihm einmal zu, konzentrierte sich aber ansonsten auf das Meer; sie beschäftigten sich alle auf ihre Weise damit.
»Ich kann nicht mehr«, sagte Annie schließlich. »Meine Arme fühlen sich an wie Nudeln.«
»Das Meerungeheuer macht Spaghetti aus dir.«
Annie schlug mit dem Ruder aufs Wasser, so dass Ella nass wurde. »Ich schmecke nicht sehr gut.«
Ella spritzte zurück. »Lass uns zum Ufer zurückrudern, so schnell wir können.«
»Warum?«
»Wegen der Seeschlange. Hast du die nicht gesehen?«
Annie blickte sich voller Angst um, bevor sie merkte, dass Ella sie auf den Arm nahm. Doch es machte Spaß, so schnell zu rudern, die Wellen unter sich zu spüren, die sie ans Ufer trugen. Viel zu bald erreichte das Boot den Strand. Sie zogen es aus dem Wasser und sanken erschöpft auf den Boden, zum ersten Mal seit Wochen voll und ganz zufrieden. Sie machten Sandengel, versuchten, in den Wolken Formen zu erkennen, schauten hinauf in den tiefblauen Himmel.
SIEBEN
M aires Familie hatte auf der Insel Heidelbeeren gepflückt, solange sie zurückdenken konnte. Dieses Jahr waren die Früchte früh reif; sie hatte Nora und den Mädchen versprochen, sie mit der Tradition vertraut zu machen. Hinterher würden sie auf den Felsen picknicken. Besseres Wetter hätte sie sich nicht wünschen können; der Himmel war wolkenlos. Nichts schmeckte so gut wie die wilden Beeren; die anderen erschienen ihr im Vergleich dazu fade. Am liebsten mochte sie sie in dem Kuchen nach dem Rezept ihrer Mutter.
Maeve hatte das Pflücken immer gehasst, weil sie es langweilig fand, und sich Ausreden ausgedacht, doch Maire sammelte gern. Sie hielt sich gern auf den Feldern auf, spürte gern die Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht, und der Duft der reifenden Früchte ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie trug eine Schürze und Gummistiefel, um die Kleidung vor Flecken zu schützen. Ihr gefiel es, wenn die Beeren mit einem Ping in den Kaffeedosen landeten, die ihr Vater mit Schnurgriffen versehen hatte. Du bist wie ich, Maire. Du hast eine praktische Ader.
Maire wollte nicht unbedingt so sein, wie sie war – kompetent und durchschnittlich. Hübsch, nicht schön; intelligent, nicht genial; ruhig, nicht lebhaft. Sie war nicht Maeve. Die würde sie nie sein.
»Kommst du nicht mit?«, hatte sie gefragt, als Maeve zur Tür hinausstürmte. Maeve war in jenem Jahr dreizehn geworden, ein Jahr der Veränderung. Plötzlich hatte sie begonnen, sich mehr aus ihrem Aussehen zu machen, sich die Haare gestylt und heimlich Make-up aufgelegt.
»Ich treffe mich im Ort mit Brenna.« Mit anderen Worten: Sie würden die Straße auf und ab flanieren und den Jungs schöne Augen machen.
»Was ist mit Maggie?«, hatte Maire gefragt.
Maggie und Maeve waren jahrelang beste Freundinnen gewesen.
»Was soll mit ihr sein? Hebt mir ein Stück Kuchen auf, ja?«
»Wann bist du wieder da?«
Ohne eine Antwort zu geben, war Maeve aufs Rad gesprungen und am Briefkasten vorbei auf die Straße gestrampelt.
Maire war an der Landspitze zurückgeblieben, weil ihre Mutter gesagt hatte, sie sei zu jung, um allein nach Portakinney zu fahren.
Und hier auf der Landspitze lebte sie immer noch,
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