Das Mädchen in den Wellen
Jahrzehnte her, dass jemand in dem kleinen Kamin ein Feuer entzündet hatte. Maire stellte sich nur ungern vor, in was für einem Zustand sich der Schuppen befand – die Mäuse, die Spinnweben. Sie hatte Owen gewarnt, ihn jedoch nicht abschrecken können. »Hab schon Schlimmeres gesehen«, hatte er gemeint.
Eine Krähe flog, wie eine Katze schreiend, vor ihr her. Kluge Vögel, diese Krähen. Als Kind hatten sie ihr Angst gemacht; ihre Großmutter hatte behauptet, sie seien Todesboten, doch später hatte sie gemerkt, dass Probleme ohne Ankündigung kamen, Vögel hin oder her. Sie vermutete, dass diese Krähe sich über Flotsam und Jetsam lustig machte, indem sie außer Reichweite herumflog. »Schlaues Kerlchen«, sagte Maire zu ihr. Sie sprach oft mit den Tieren – und mit Joe, besonders in den Monaten nach seinem Verschwinden. Sie hatte nach wie vor das Gefühl, dass er bei ihr war. Vermutlich würde sich das nie ändern.
Der Pfad führte auf einen Felsen, den Maeve den Sonnenfelsen genannt hatte, weil sie sich dort in BH und Slip sonnte, wenn ihre Eltern nicht zu Hause waren. Maire hatte die helle irische Haut ihrer Mutter geerbt, die im Gegensatz zu der von Maeve nie braun wurde. Der Teint von Maeve veränderte sich mit den Jahreszeiten, was sie für die Jungs in Portakinney, die ihr auf Schritt und Tritt folgten, noch exotischer machte. Nach einer Reihe übler Sonnenbrände war Maire klar geworden, dass sie sich in puncto Bräune nicht mit ihrer Schwester messen konnte.
Owen hatte den Hof von Müll gesäubert und seine Netze zum Trocknen ausgebreitet. Alles wirkte nicht mehr so trostlos wie zuvor. Es war gut, jemanden hier wohnen zu haben, so eine Art Hausmeister. Wäre ihr das doch nur früher eingefallen! Sie betrat die Veranda und klopfte an die Tür. Er hatte ein Glockenspiel aus Muscheln gebastelt und an den Dachvorsprung gehängt. Zuerst keine Reaktion, dann meinte sie, von drinnen so etwas wie ein Stöhnen zu hören. Sie drückte die Tür auf und streckte den Kopf hinein. Er kniete auf dem Boden. Was um Himmels willen machte er da?
»Owen«, sagte sie. »Alles in Ordnung?«
Er hob verwirrt den Kopf.
Sie stellte den Teller auf dem kleinen Tisch beim Fenster ab und ging neben ihm in die Hocke. »Erkennen Sie mich?«
Seine Miene hellte sich auf. »Tut mir leid. Ich hab Sie nicht gehört.«
Sie berührte seinen Arm. »Was ist los? Kopfweh?«
Er starrte seine Hände an, als gehörten sie ihm nicht. »Es ist schwieriger, als ich dachte.«
»Was?«
»Alles.«
Sie richtete sich auf. »Hier sind Sie in Sicherheit. Sie haben festen Boden unter den Füßen.«
»Ich weiß«, sagte er. »Normalerweise bin ich nicht so.«
»Sie werden bald wieder der Alte sein. Vielleicht bringt ein ordentliches Essen Sie auf die Beine.« Sie deutete mit dem Kinn auf den Teller. »Soll ich bleiben? Es würde mir keine Umstände machen.«
Er stand ächzend auf, als ruhte ein unsichtbares Joch auf seinen Schultern.
»Wirklich, Maire. Mir geht’s gut – und ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich meiner annehmen.«
»Ich habe eher den Eindruck, dass Sie sich um mich kümmern.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. Als sie spürte, wie er leicht zu zittern begann, entfernte sie sich widerstrebend.
NEUN
O wen wurde immer mehr Teil von Noras und Maires Leben, übernahm Arbeiten für sie, half bei Reparaturen an Truck und Haus. Es schien nichts zu geben, was er nicht in Ordnung bringen konnte. »Der Reparierer« nannte Nora ihn ironisch, die ihn mit ihrem Sarkasmus auf Distanz hielt, aber insgeheim beobachtete.
»Das da könnte ich noch richten« wurde zu seinem Standardsatz.
»Was ist mit deinem Gedächtnis?«, fragte Nora. »Wird’s besser?«
»Nur ganz langsam«, antwortete er.
Auf Maires Bitte hin reparierte er an einem Vormittag das Geländer auf der Terrasse des Cottage, während Nora die Stuhlkissen mit gestreiftem Stoff von Scanlon’s bezog. (Alison, die ein gutes Auge für so etwas besaß, hatte ihr geholfen, ihn auszusuchen.) Die Mädchen spielten Irrgarten im langen Gras der Wiese, über dem ihre Köpfe kaum zu erkennen waren.
»Du bist der Minotaurus«, rief Ella Annie zu.
»Warum muss ich immer das Ungeheuer spielen? Warum kann ich nicht die Kriegerprinzessin sein?«, beklagte sich Annie.
»Weil du spitzere Zähne hast als ich.«
»Ich werde nicht immer Milchzähne haben. Eines Tages bin ich vielleicht sogar größer als du. Und dann kommandiere ich dich rum. Ha!«
Ihre Stimmen wurden leiser, als
Weitere Kostenlose Bücher