Das Mädchen in den Wellen
sie in den Schatten der Kiefern eintauchten.
Nora sah Owen zu, wie er stumm die Streben des Geländers erneuerte. Ihn schien das Schweigen nicht zu stören.
Sie schon. »Ich glaube, Maire hatte Angst, dass die Mädchen sich an einem herausstehenden Nagel verletzen könnten«, erklärte sie.
»Das Geländer muss ganz neu gemacht werden.«
»Der auch?« Sie tippte mit dem Fuß auf den Boden der Terrasse.
Er schüttelte den Kopf. »Der ist stabil, weil er versiegelt wurde.«
Nora erinnerte sich, wie ihr Vater die Terrasse gebaut hatte. Nora hatte ihm unbedingt helfen wollen und von Patrick einen Werkzeuggürtel mit Plastikhammer in Kindergröße bekommen, mit dem sie auf die Dielen einhämmerte. Am Schluss hatte ihre Mutter die Fenster geschlossen, damit der beißende Geruch des Versiegelungsmittels nicht ins Haus eindringen konnte, und war mit Nora weggegangen. Nora wusste nicht mehr, wohin, nur den Weg, und dass ihr Vater in der Ferne immer kleiner geworden war, bis sie ihn schließlich überhaupt nicht mehr hatte sehen können.
»Stimmt was nicht?«, fragte Owen.
»Ich hab gerade an meinen Dad gedacht. Er hat das Cottage damals fast allein auf Vordermann gebracht.« In Boston hatte Patrick in seiner Werkstatt weiter mit Holz gearbeitet. Nora hatte gern an der Tür gesessen, in sicherer Entfernung zu den laut dröhnenden Sägen, die Gespräche unmöglich machten. Sie hatte mit den Sägemehlhaufen gespielt, sie sich als Wüste Gobi oder die Sahara vorgestellt, während ihr Vater wortlos die Dechsel schwang. Er hatte ihnen ein neues Leben aufgebaut, so gut er es vermochte, ihnen ein Dach über dem Kopf und ein tragfähiges Fundament gegeben – das begriff sie jetzt.
»Qualitätsarbeit«, bemerkte Owen.
»Bis auf das Geländer.«
»Das ist nicht von ihm. Maire sagt, das habe ihr Sohn angebracht.«
Nora fand es irgendwie beruhigend, dass ihr Vater nichts mit dieser fehlerhaften Konstruktion zu tun hatte.
Ihr Gespräch verlief stockend, doch am Ende fanden Nora und Owen ihren jeweiligen Rhythmus bei der Arbeit. Er schien sie gern sprechen zu hören, fiel ihr nicht ins Wort, analysierte nicht. Ihr war gar nicht klar gewesen, wie sehr sie jemanden zum Zuhören brauchte. Sie erzählte ihm, dass sie als Kind auf die höchsten Bäume der Gegend geklettert oder mit dem Fahrrad die steilsten Hügel hinuntergesaust war. Nun musste sie als Mutter bei ihren Kindern mehr Vorsicht walten lassen und sich an den Entscheidungen von Malcolm orientieren. Vielleicht wollte sie Owen zeigen, dass sie wagemutig war und bereit, Risiken einzugehen. Möglicherweise musste sie sich aber auch ins Gedächtnis rufen, dass Malcolm nach wie vor Teil ihres Lebens war.
»Ich hab gar nicht gemerkt, dass ich so viel rede«, sagte sie mit einem Mal. »Sonst plappere ich nicht so viel …«
»Kein Problem«, versicherte er ihr. »Ich hab gern jemanden zum Reden. Ich bin die meiste Zeit allein.«
»Ich auch.«
Owen sah sie an. »Er war dumm, dich gehen zu lassen.«
»Vielleicht hat er das ja nicht«, beeilte sie sich zu sagen. »Noch ist nichts entschieden.«
»Nein. Vermutlich nicht.«
Danach klang der Schlag seines Hammers auf dem Holz lauter.
Am nächsten Morgen, als die Sonne durch die Fenster schien, stellte Nora erstaunt fest, dass sich neue Möbel auf der Terrasse befanden. Die hatte Owen offenbar heimlich aus Treibholz gebaut und vor Sonnenaufgang hergebracht, als Nora und die Mädchen noch schliefen. Sie ließ die Finger über das von den Wellen glatt polierte Holz gleiten. Die Stühle waren fein gearbeitet, das Werk eines echten Meisters.
Die Mädchen gesellten sich mit verschlafenen Gesichtern zu ihr.
»Nixenstühle!«, rief Annie aus, ließ sich auf einen plumpsen und legte die Hände auf die Armlehnen. »Wo kommen die her?«
»Owen muss sie gemacht haben.«
»Das sind die schönsten Stühle, die ich je gesehen habe.«
»Dann kennst du nicht viele«, meinte Ella.
»Sie sind hübsch«, sagte Nora, der nicht wohl dabei war, ein so großes Geschenk anzunehmen. »Auf jeden Fall besser als die alten, so viel steht fest.«
»Mir haben die alten gefallen«, nörgelte Ella.
»Die waren doch kaputt«, erwiderte Nora.
»Scheint mal wieder jemand mürrisch zu sein heute Morgen«, stellte Annie fest und wich vorsichtshalber einen Schritt zurück, um schwesterlichen Strafaktionen zu entgehen.
Ella achtete gar nicht auf sie. »Die Kissen, die du genäht hast, passen da nicht drauf«, prophezeite sie Nora.
»Die passen schon. Und
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