Das Mädchen in den Wellen
meinen Namen immer so.«
Er schüttelte den Kopf. »Das bleibt unser Geheimnis – nur für den Strand.«
»Nur für den Strand«, wiederholte sie.
»Du bist also mit deiner Familie hier?«, fragte er.
»Mit meiner Schwester und meiner Mom.«
»Und dein Dad?«
»Der kommt, glaube ich, nach. Aber genau weiß ich es nicht. Er war in letzter Zeit nicht oft bei uns.« Sie seufzte.
Er nickte, als wüsste er, wovon sie sprach. »Die Dinge verändern sich ständig«, sagte er und blickte auf die Wellen. »Manchmal nicht so, wie wir wollen.«
Sie schwiegen. Mit Ronan zusammen zu sein war schön. Sie hätte Stunden mit ihm verbringen können.
Plötzlich stand er auf und duckte sich hinter einen Haufen Treibholz. Er schien Dinge zu erahnen.
»Was ist los?«, fragte sie und überlegte, ob sie sich auch verstecken sollte.
»Da ist jemand.«
Sie sah in die Richtung, in die er zeigte. Owen Kavanagh warf von einem der Felsvorsprünge aus sein Netz aus. »Das ist bloß Owen. Er kommt aus dem Meer wie du. Kennst du ihn?«
Keine Antwort. Ronan war ohne ein weiteres Wort zwischen den Felsen hindurchgeschlüpft und verschwunden.
Kurz darauf begegnete Annie auf dem Klippenpfad Maire, die in einem Korb Algen und Schalentiere sammeln wollte und den Jungen davonhuschen gesehen hatte. »Du hast einen Freund gefunden?«
»Einen Freund? Ich war allein.« Annie grub mit den Zehen im Sand, wich Maires Blick aus.
Neben ihr lagen ihre Funde vom Strand – Strandschnecken, Muscheln, Meerglas, ein runder Granitstein. Im Cottage befand sich bereits eine beachtliche Sammlung, die Annie Maire mehrmals gezeigt hatte.
»Noch mehr Schätze?«
»Hier gibt’s jeden Tag was Neues. Man weiß nie, worüber man stolpert.« Ihr Blick wanderte in die Richtung, in die der Junge gelaufen war.
»Zum Beispiel über Menschen?« Maire deutete auf die Spuren im Sand, die die Wellen noch nicht verwischt hatten.
Annie biss sich auf die Lippe. »Das darf niemand erfahren, am allerwenigsten Ella. Sie ist so herrisch; ich glaube nicht, dass Ronan sie leiden könnte.« Annie schlug die Hand vor den Mund. »O nein. Jetzt habe ich seinen Namen verraten.«
»Schon in Ordnung. Ist er nur den Sommer über da wie du?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er mein Freund ist. Er spielt gern. Ella mag nicht ständig spielen. Kommt das, wenn man älter wird? Hoffentlich werde ich nicht so.«
Maire lächelte. Was für ein Geschenk, wieder Kinder in Cliff House zu haben! Sie hatte ganz vergessen, wie sie waren – ihre Entdeckungen, ihre kleinen Freuden, ihre Offenheit für alles Neue. »Dann behalten wir das Geheimnis erst mal für uns, was?« Vielleicht wusste Nora, die die Mädchen immer im Auge behielt, sowieso schon Bescheid.
»Kannst du den Mund halten?«, fragte Annie.
Maire nickte. Ja. Sogar ziemlich gut.
»Manche Geheimnisse sind schlecht, stimmt’s?«, fragte Annie, die an ihren Vater dachte.
»Das hier nicht. Jedenfalls glaube ich das nicht. Es freut mich, dass du einen Freund gefunden hast.«
»Ich auch. Auf Burke’s Island lernen wir viele neue Leute kennen – Polly, Alison, Owen, Reilly …«
»Du kennst Reilly?« Warum überraschte sie das? Er ging oft die Klippen entlang, wagte sich jedoch abgesehen von den Sonntagen, wenn er die Kirche besuchte, nicht mehr so weit hinaus. Während des Gottesdienstes saß er in derselben Bank wie Maire, dritte Reihe links, bei einer kleinen Figur der heiligen Rita, der Schutzpatronin der aussichtslosen Fälle.
»Ja. Und Patch.«
Maire und Joe hatten ebenfalls einen Hund gehabt, einen schokoladenbraunen Labrador namens Diggity, der mit seinem Herrn untergegangen war. Maire hatte es nicht übers Herz gebracht, sich einen neuen zuzulegen, weil sie nicht wusste, was die Zukunft bringen würde. »Er ist süß, was?«
»Es ist schön, jemanden in meinem Alter zu haben«, sagte Annie, wieder beim Thema Ronan.
»Ja, das glaub ich dir gern.« Ella war die Einzige, die auf der Insel noch keine Freunde gefunden hatte, aber auf der Landspitze gab es ja auch keine anderen Kinder.
»Wo willst du hin?«, fragte Annie.
»Algen ernten. Manche Sorten schmecken im Salat, andere sind gut für den Garten, zum Düngen. Möchtest du mir helfen?«
»Ja.« Annie nahm Maires Hand. »Ich bin froh, dass wir auf die Insel gekommen sind, Tante Maire.«
»Ich auch.«
»Owen fischt gern, stimmt’s?«, fragte Annie später, als sie wieder in Cliff House waren. Maire hatte ihre jüngere Nichte den ganzen Vormittag über für
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