Das Mädchen in den Wellen
wenn nicht, gibt’s neue.«
»Wir hätten die Stühle reparieren können«, beharrte Ella. »Einen Versuch wär’s wert gewesen.«
Nora deutete auf die alten, die an der Seite des Cottage lehnten. »Da drüben sind sie. Aber zieh dir keinen Splitter ein.«
Ella versuchte, einen der Stühle auseinanderzuklappen. Es sah aus, als würde sie unbeholfen Walzer damit tanzen.
»Gleich bricht er auseinander«, warnte Annie sie.
»Nein«, presste Ella zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Endlich klappte der Stuhl mit einem knackenden Geräusch auf. Ella stellte ihn in der Ecke auf und setzte sich vorsichtig darauf. Er wackelte so sehr, dass sie nicht gemütlich darauf sitzen konnte.
»Bequem?«, fragte Nora.
»Sehr. Wir brauchen sowieso mehr Sitzgelegenheiten, wenn Dad kommt.«
Am Abend waren Polly und Owen bei Maire zum Essen eingeladen. Er habe den Fisch für die Bouillabaisse beigesteuert, erklärte Maire, weswegen es nur recht und billig sei, ihn teilhaben zu lassen. Von der heißen Fischsuppe stiegen Düfte nach Safran und Kräutern aus Maires Garten sowie den Tomaten aus ihrem Gewächshaus auf.
»Sie sind nicht so gut wie die von draußen«, entschuldigte sie sich, »aber die sind noch nicht reif.« Sie reichte Schalen mit Brot, Salat und Himbeeren herum.
Maire hatte den Tisch festlich mit Silberbesteck, weißen Servietten, Kerzenleuchtern und Delfter Porzellan gedeckt. Ella hob den Blick an jenem Abend kaum jemals von ihrem Teller und schob lustlos den grünen Salat mit Kresse und Sprossen hin und her.
In einer Halterung an der Tür steckte eine Fahne, und von den Lampen baumelten Luftschlangen. Es war der vierte Juli, der Unabhängigkeitstag. Den hatte Nora vollkommen vergessen.
»Wir sind aus Boston«, erzählte Annie Owen. »Und woher kommen Sie?«
»Ich lebe am Meer«, antwortete er.
»Wenn die Aufzeichnungen meines Großvaters stimmen, bist du unser erster Schiffbrüchiger seit vierzig Jahren«, teilte Maire ihm mit.
»Freut mich, es bis in die Annalen geschafft zu haben.«
»Und zwar ganz schön dramatisch«, fügte Polly hinzu.
»Das ist wie eine Geschichte aus unserem Märchenbuch«, bemerkte Annie.
»Nicht schon wieder«, stöhnte Ella.
»Die Sammlung, die dir und Maeve gehört hat?«, fragte Polly Maire.
»Ja, genau die.«
»Was ist eure Lieblingsgeschichte?«, erkundigte sich Polly bei den Mädchen.
Ella zuckte mit den Achseln.
»Ich kann mich nicht entscheiden«, antwortete Annie. »Ich würde gern die über die selkies lesen, aber so weit sind wir noch nicht.«
»Ja, die ist gut. Von dem Fischer, der mit seinem Netz eine Seehundfrau fängt.«
»Wieso fangen eigentlich immer die Männer die interessanten Sachen?«, fragte Ella, ganz angehende Feministin. »Das finde ich nicht gerecht.«
»Es gibt auch selkie -Männer«, erklärte Polly. »In einer Geschichte kommt ein selkie -Mann zu einer Frau, die sieben Tränen ins Meer weint, und hilft ihr, das Glück wiederzufinden. Wenn uns das nur allen passieren könnte.« Sie zwinkerte Owen zu. »Erinnert mich irgendwie an Sie.«
Er lachte. »Fragt sich nur, für welche von euch ich gekommen bin.«
Polly wurde rot. »Charmeur. Nimm dich in acht vor ihm, Maire.«
»So lebhaft war es in Cliff House nicht mehr, seit …« Maires Blick wanderte zu den Fotos ihrer Familie auf dem Kaminsims. »Es ist schön, alle hierzuhaben.« Sie hob ihr Glas. »Auf die Heimkehrer.«
»Auf die Heimkehrer.«
Nora bestand darauf aufzuräumen, während Maire mit den Mädchen in den Speicher ging, um ihnen einige Dinge zu zeigen. Die Küche mit ihren gelb gestrichenen Wänden, den Arbeitsflächen aus Inselgranit und den durchgetretenen Kiefernholzdielen spiegelte die Wärme ihrer Besitzerin wider. In den Regalen standen Gläser mit Kräutern und getrockneten Blumen. »Kopfschmerzen« war auf einem Etikett zu lesen. »Gedächtnis« auf einem anderen, als ließe sich das in einem Glas konservieren. An der Kühlschranktür klebten Fotos und Post-its, Listen zu erledigender Dinge und Telefonnummern, Zeugnis von Maires geschäftigem Leben. Beim Wegwerfen der Essensreste fiel Noras Blick auf einen angebrannten Topf im Müll – den hatte Maire vermutlich zu lange auf dem Herd gelassen. So etwas war Nora nach dem Skandal selbst mehr als einmal passiert.
Sie füllte die Spülmaschine und wischte die Arbeitsflächen ab, wie sie es auch in Boston getan hätte – in ihrem Haus in der Oak Street, dem perfekten Heim für einen angehenden Staatsmann, nicht zu
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