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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Barbieri
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Boden lag. In einer Tonne daneben steckten weitere Karten in Röhren.
    »Wo hast du die her?«, fragte Nora. Das Papier der Karte war an den Rändern eingerissen und hatte braune Flecken.
    »Die Karten sind seit Urzeiten in Familienbesitz«, erklärte Maire. »Die hier stammt aus den Tagen der Inselbesiedlung. Da sind Little Burke und der Kanal.«
    »Wer hat sie gezeichnet?«, erkundigte sich Nora.
    »Sie sind nicht signiert. Vermutlich waren unter unseren Vorfahren Navigatoren. Ich könnte schwören, dass sie jedes Mal, wenn ich einen Blick darauf werfe – und das tue ich nicht allzu oft –, anders aussehen.«
    »Was sind das für Schraffuren?«
    »Mein Dad hat mir gesagt, dass sie Seehundkolonien bezeichnen. Unsere Vorfahren haben sie genau studiert, sowohl die örtlichen Seehunde als auch die Tiere aus dem Norden, die im Sommer in diese Jagdgründe kamen. Anscheinend gab es immer die größten Fischkonzentrationen, wo die Seehunde sich versammelten. Es war, als hätte die Familie eine Abmachung mit ihnen getroffen. Wie auch immer: Bis zu meiner Generation waren wir sehr gute Fischer. Dann ist irgendetwas passiert. Pech, abnehmende Fischbestände oder globale Erwärmung – jedenfalls waren es nicht mehr so viele. Nichts hält ewig.«
    Allerdings, dachte Nora.
    Nachdem sie Wunderkerzen und Raketen von dem Stand im Ort entzündet hatten – Ella und Annie konnten die Dunkelheit nicht erwarten, obwohl dadurch der Effekt verloren ging –, kehrten Nora und die Mädchen nach Hause zurück; das goldene Licht der Abenddämmerung hüllte die Wellen und Hügel in Pflaumenfarben und Indigo. Lerchen sangen, und ein Reiher stand reglos am Pier. Annie und Ella liefen über die Hügel voran, vorbei an den Bäumen im Obstgarten, deren flechtenbewachsene Äste sich unter glänzend grünen Früchten bogen. Es roch nach Wildblumen, Gras und Meer und noch nach etwas anderem, Flüchtigem, das der Wind heranwehte. Das Parfüm ihrer Mutter? Das Öl, das Maire aus den wilden Narzissenblüten destilliert hatte? Erinnerungen an die Vergangenheit lauerten überall.
    »Fast Zeit für eine Geschichte«, sagte Annie.
    Ella öffnete die Cottagetür. Die Schatten schienen dunkler zu sein als sonst. Nora zeichnete vor dem Spiegel in ihrem Zimmer die Falten ihres Gesichts nach, die grauen Strähnen, die an den Schläfen mehr geworden zu sein schienen, bleibende Erinnerungen an die vergangenen Monate. War es das, was Malcolm sah? Die andere eine jüngere Version von Nora mit glatter Haut, unbelastetem Leben, faszinierend, rätselhaft. War es möglich, einander zu gut und gleichzeitig nicht gut genug zu kennen?
    »Mama!«, rief Annie.
    Nora riss sich von ihrem Spiegelbild los, um ein Bad für Annie einzulassen. Als sie den Hahn aufdrehte, ergoss sich ein Schwall Wasser daraus. »Die Niagarafälle!«, kreischte Annie. »Iguazu!«, sagte Ella, die ihre Haare entwirrte und sich auf den Toilettensitz hockte, um ihre Nägel zu lackieren und Nora und ihrer kleinen Schwester beim Badespaß zuzusehen.
    Annie stieg in die Wanne, deren Füße wie die Klauen eines Tiers geformt waren; sie konnte sich keinen besseren Ort vorstellen, Meeresungeheuer zu spielen.
    Auch Nora glitt in das warme Wasser. Eine einzelne schillernde Seifenblase stieg zur Decke empor; Nora spürte die weiche Haut ihrer Tochter, ihr seidiges Haar. Ella und Nora halfen Annie, den Schaum zu Bergen, Perücken, Bärten und Hüten zu formen – ich bin eine Hexe, ich bin ein Hai, ich bin eine Seejungfrau –, und ihr Lachen erfüllte das Haus, in dem es so lange ruhig gewesen war, während draußen Böller erklangen.
    »Feuerwerk!«, rief Annie aus und rannte in ein Badetuch gehüllt auf die Terrasse hinaus.
    Raketen erhellten den Himmel über dem Pier von Portakinney. Ella und Annie brachen in Jubelrufe aus.
    »Schönen Unabhängigkeitstag, Mama!«, sagte Annie.
    Unabhängigkeitstag. Das Wort gefiel Nora.

ZEHN
    A m folgenden Tag hörte sich der Wind klagend an wie eine leicht verstimmte Drehorgel. Die Mädchen, die sich daranmachten, das Ruderboot in die kleine Bucht hinauszuschieben, lauschten. So etwas hatten sie noch nie gehört. Reilly Neale, der sie begleitete, befahl Patch, am Ufer zu bleiben. (Der Hund ergab sich, den Kopf auf den Pfoten, widerwillig in sein Schicksal.) Als Reilly, die Hose bis zu den knubbeligen Knien hochgekrempelt, an Bord ging, neigte sich das Boot gefährlich zuerst zur einen, dann zur anderen Seite, doch am Ende gelang es ihm, in der Mitte Platz zu nehmen,

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