Das Mädchen in den Wellen
schwarze Bänder. Ein Mädchen und seine Mutter, an einem schönen Nachmittag.
Erst später, als Patrick gegen die Tür gehämmert hatte, war ihm aufgegangen, dass etwas nicht stimmte. »Hast du sie gesehen?«, hatte Patrick gefragt, und er hatte ihm keine Antwort geben können. Patrick war zum Ufer hinuntergerannt, wo Spuren im Sand die Stelle anzeigten, an der Maeve das Ruderboot ins Wasser geschoben hatte, daneben die Abdrücke ihrer nackten Füße im Sand, zwei größere und zwei kleine, seine Frauen, seine Familie, verschwunden.
Tage waren vergangen. Am Ende war das Boot allein zurückgekehrt.
Jetzt saßen Maeves Enkelinnen und Reilly darin. Er spürte die Last der Vergangenheit in den gewölbten Brettern des Boots und ließ die Hand über den Dollbord gleiten. Coracle lautete die englische Bezeichnung für ein solches Ruderboot. Seine Großmutter hatte ihm in der Kindheit gesagt: »Lass das C weg, dann hast du ›Orakel‹.« Dieses Boot, das immer noch Geheimnisse barg.
»Ja«, antwortete Reilly Annie und Ella mit leiser Stimme. »Ich glaube schon.«
»Vielleicht schreibe ich eine Geschichte darüber«, erklärte Annie. »Für das Märchenbuch.«
»Viel Spaß«, meinte Ella.
Sie kehrten um. Nora wartete am Strand, die Arme vor der Brust verschränkt, das Gesicht grimmig. Patch saß mit schuldbewusster Miene daneben und bellte nicht einmal zur Begrüßung. Die Brandung rollte an das Ufer und zog sich wieder zurück, als würde sie es nicht wagen, Noras Füße zu benetzen. Ein Streifen dunklen Sandes trennte sie von den Wellen, die das Ruderboot an Land trugen.
»Oje«, stöhnte Annie.
»Das muss eure Mutter sein«, sagte Reilly. »Sie sieht aus wie Maeve.«
»Sie ist wütend«, stellte Annie fest.
»Weiß sie denn nichts von dem Boot?«, fragte Reilly. »Ich dachte, sie hätte euch erlaubt, damit rauszufahren.«
»Nicht so ganz«, gab Ella zu.
»Egal, ihr seid ja sicher wieder an Land. Das spricht für uns.«
Der Boden des Boots scharrte über den Kieselstrand. Die Mädchen sprangen heraus und halfen Reilly, es ans Ufer zu ziehen. Nora ging ihnen entgegen, die Arme nach wie vor verschränkt, die Finger weiß und verkrampft. Sie trug ein tiefgrünes Oberteil in der Farbe der Kiefern beim Cottage und eine bis zu den Waden hochgekrempelte Jeans.
»Hallo, Mom«, begrüßte Annie sie, als könnte ein Lächeln alles wieder in Ordnung bringen.
»Hallo«, erwiderte Nora mit flacher Stimme und zornig zusammengekniffenen Augen.
»Ich bin Reilly Neale, Mrs. …« Er zog seine Kappe und verbeugte sich leicht.
»Cunningham.«
»Mama, Reilly ist unser Freund«, erklärte Annie und sah ihre ältere Schwester an, die mit den Achseln zuckte und die Augen verdrehte.
»Ich kenne Ihre Tante«, sagte Reilly.
»Komisch, dass sie nie was von Ihnen erwähnt hat.«
»Sie können sie fragen …«
»Das tue ich.«
»Ich wohne ein Stück weiter den Strand runter und bin den Mädchen bei einem Spaziergang begegnet. Ich habe ihnen mit dem Boot geholfen.«
Nora betrachtete das Boot genauer und wurde blass.
»Wir haben es aufgemöbelt. Ich fand, sie sollten in Begleitung fahren.«
»Er ist unser persönlicher Meeresberater«, meldete Annie sich zu Wort.
»Wir waren nicht weit draußen«, versicherte Reilly Nora. »Sie wollten die Meerjungfrauenhöhle sehen.«
»Beraten Sie sich nächstes Mal zuerst mit mir. Ich wohne ein Stück weiter da drüben, im Cottage«, sagte sie sarkastisch.
Er klatschte in die Hände, um Patch zu rufen, und machte sich auf den Weg nach Hause, traurig darüber, dass ihr Ausflug so geendet hatte.
»Was habt ihr euch dabei gedacht?« Nora scheuchte die Mädchen die Böschung hinauf, die Hände um ihre Oberarme.
»Aua, du tust mir weh. Ich krieg einen blauen Fleck von dir.« Ella entwand sich ihrem Griff.
»Sei nicht so zimperlich«, herrschte Nora sie an, obwohl sich tatsächlich ein Abdruck abzeichnete. Nora hatte nicht die Absicht gehabt, so grob zu sein.
»Du hast gesagt, wir sollen die Insel erforschen«, stellte Ella fest. »Genau das haben wir gemacht. Wir können schwimmen, hatten Schwimmwesten an und sind in der Bucht geblieben. Außerdem war Reilly da.«
»Ein Mann, den ich nicht kenne.«
»Er kennt dich aber«, sagte Annie.
»Ich erinnere mich nicht an ihn. Ich habe ihm nicht erlaubt, euch irgendwohin mitzunehmen. Habt ihr die Ruder und die Schwimmwesten von ihm?«, fragte sie in scharfem Tonfall. Sie konnten nicht nachvollziehen, wie groß ihre Sorge gewesen war; das
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