Das Mädchen in den Wellen
würden sie erst begreifen, wenn sie selbst Kinder hatten.
»Nein«, antwortete Ella. »Von Owen.«
»Owen?« Ihre Kiefermuskeln verkrampften sich.
»Es tut uns leid, Mama«, sagte Annie. »Stimmt’s, El?«
Ella schwieg.
»Ihr seid erst sieben und zwölf«, sagte Nora. »Ich bin verantwortlich für euch. Versteht ihr das nicht? Wenn euch etwas zustoßen würde …«
»Aber es ist nichts passiert. Es wäre auch nichts passiert«, versicherte Annie.
»Das Boot ist zu alt.«
»Es hat all die Jahre überstanden. Früher hat es deiner Mutter gehört. Hast du es nicht erkannt?«, fragte Ella.
»Doch.« Der Anblick des Boots hatte Nora verblüfft, als wäre sie unvermittelt in einem dunklen Raum gelandet. Ihr Puls hatte sich immer noch nicht beruhigt. Sie öffnete die Tür zum Cottage und schob ihre Töchter hinein. Dann schaltete sie den Herd an, füllte einen Topf mit Wasser, wartete, bis es kochte, und gab Nudeln hinein. Sie wollte Penne mit Broccoli aus Maires Garten machen, das Lieblingsessen der Mädchen. »Zieht euch um«, sagte sie. »Eure Sachen sind nass.«
»Die sind gleich wieder trocken«, widersprach Ella.
Nora war klar, dass Ella gar nicht die nassen Kleider anbehalten wollte; sie war einfach nur aufsässig. »Tu, was ich dir sage«, fuhr Nora sie an, die Finger um die Kante der Arbeitsfläche gekrallt, und holte tief Luft.
Die Mädchen zogen sich in ihr Zimmer zurück.
Nora starrte hinaus auf die Wellen. Die Wellen, auf denen ihre Töchter gerudert waren, auf denen sie im selben Boot gefahren sein musste. Sie erinnerte sich, wie Maeve es ihr das erste Mal gezeigt hatte. »Das wird einmal dir gehören«, hatte sie gesagt, und Nora hatte begeistert in die Hände geklatscht. Damals war es ihr größer erschienen. Alles war ihr größer erschienen. Nur das Meer hatte seine Größe beibehalten; es war überlebensgroß, rätselhaft wie eh und je. Es barg den Schlüssel zum Schicksal ihrer Mutter. Obwohl das Boot jetzt Nora gehörte, verspürte sie nicht den Wunsch, wieder damit hinauszufahren. Auch die Mädchen sollten das nicht, doch es würde schwierig werden, sie daran zu hindern. Es war das Beste, das Boot für sie nicht noch interessanter zu machen, als es ohnehin schon war. Sie würde ihnen erlauben, damit auf Erkundungsfahrt zu gehen, aber wie immer ein Auge auf sie haben.
Ihr Handy, das auf der Arbeitsfläche lag, summte. Sie warf einen Blick aufs Display. Malcolm. »Hallo?«, meldete sie sich mit leiser Stimme. Keine Antwort. »Hallo?« War der Empfang schlecht? Oder war sie es, die anrief, um Noras Stimme zu hören, weil die Neugier übermächtig geworden war? Nora hatte vor einigen Wochen genau das Gleiche getan, in der Hoffnung, die Frau zur Rede zu stellen, jedoch gleich wieder aufgelegt. Die Stimme hatte sich mädchenhaft, jung angehört. Ganz anders als die von Nora.
Die Sonne, die schräg durchs Küchenfenster schien, traf auf den Diamanten an Noras Verlobungsring. Den Ring trug Nora, weil er ihr gehörte, weil sie nach wie vor verheiratet waren, sie und Malcolm, selbst wenn sie nicht mehr im selben Haus wohnten. Der Edelstein warf einen Lichtpunkt auf die kahle Wand, der hin und her wanderte, als suchte er nach etwas.
Der Pfad zu der Fischerhütte war deutlich zu erkennen, wenn auch ein wenig überwachsener als die anderen, die kreuz und quer durch die Felder und Wäldchen auf ihrem Teil der Insel verliefen. Hier streifte das hohe Gras ihre Beine, und die Bäume auf der Landspitze waren vom Wind verkrüppelt. Als sie näher kam, fiel ihr ein, dass sie schon einmal hier gewesen war, an diesem Ort, an den ihr Großvater sich zum Flicken der Netze und zum Nachdenken zurückgezogen hatte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Stelle in seinem Bart, wo die Haare nicht gewachsen waren, weil er eine hakenförmige Narbe hatte. Sie erinnerte sich an den Geruch seiner Pfeife, den singenden Tonfall, in dem er ihr Knoten beibrachte – Palstek, Marlschlag, Webeleinstek, Achtknoten, Schifferknoten, Kreuzknoten –, an seine geübten Finger, mit denen er einfache Schnüre und Seile zu kunstvollen Gebilden verknüpfte.
Die Hütte hatte sich nicht sehr verändert, jedenfalls nicht äußerlich. Sie stand auf einem kleinen Hügel und schien aus dem Felsen herauszuwachsen. Moos und Gras bedeckten das Dach, aus dem Kamin stieg kein Rauch, hinter den Fenstern war kein Licht zu sehen.
Ihr Großvater war nicht mehr dort, auch nicht ihr Vater, nur noch Owen, der gegenwärtige Bewohner dieses einsamen
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