Das Mädchen in den Wellen
Ortes. Owen, mit dem sie über die Möbel und die Ruder für den Bootsausflug ihrer Töchter sprechen musste.
Eigentlich hatte sie vorgehabt zu klopfen, doch jetzt zögerte sie.
»Willst du zu mir?« Er tauchte hinter ihr auf.
Sie erschrak. »Ja. Ich wollte dir das geben.« Sie reichte ihm einen Blankoscheck für die Möbel, Malcolms Name in der linken oberen Ecke. Sie würde es Owen überlassen, den seiner Ansicht nach angemessenen Betrag einzusetzen.
»Den werde ich zerreißen.«
Hatte er überhaupt ein Bankkonto?, fragte Nora sich.
»Waren die Ruder auch ein Geschenk?«
»Was?«
»Die Ruder, die du den Mädchen für das Boot gegeben hast. Sie sind doch von dir, oder?«
»Ja. Ich dachte …«
»Du hast falsch gedacht. Man merkt, dass du keine Kinder hast. Du unterschätzt die Gefahr …«
»Du hast nicht gewusst, dass sie damit gefahren sind?«
»Nein.« Sie machte sich Vorwürfe, weil sie unachtsam gewesen war. »Damit das klar ist: Ich will keine Geschenke von dir. Ich will nicht, dass du …«
»Okay, okay«, sagte er, zerknüllte den Scheck und drückte ihn ihr in die Hand.
»Gut.« Sie eilte in Richtung Cottage zurück.
Auf der Wiese davor blieb sie stehen, um sich zu sammeln. Sie bedauerte es, aus der Haut gefahren zu sein. Sie bedauerte so vieles.
Die Tür zum Cottage öffnete sich, und Annie rannte auf sie zu. »Lesen wir im Märchenbuch weiter?«
»Welche Geschichte heute?«
»Die mit den Muschelmenschen«, antwortete Annie, als sie die Tür erreichten. »Ich hab weitergeblättert.«
»Du traust dich was.«
»Beeil dich! Ich bin neugierig, was als Nächstes passiert.«
Da verschwand das letzte Licht des Tages, ein Vorhang, der sich schloss, so dass sich ein anderer öffnen und Nacht und Träume hereinlassen konnte.
ELF
N ora schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie hätte schwören mögen, dass jemand mit ihr gesprochen hatte – ein schwacher Nachhall der Stimme ihrer Mutter lag in der Luft –, doch in dem Raum war es still. Ein Schatten glitt vom Rand des Spiegels über den Boden, so dass sie sich kerzengerade hinsetzte und die Hände in die Laken krallte, aber es war nur die aufgehende Sonne. Die Kompassnadel erzitterte auf dem Nachtkästchen, als hätte sie ihr einen Kurs durch die Gewässer der Erinnerung und der Träume gewiesen. Nora nahm den Kompass in die Hand; er hatte keine Antworten für sie. Er konnte sie nur leiten, wenn sie wusste, wohin sie wollte. Sie hatte das Gefühl, dass das Zimmer vor ihrem Aufwachen lebendig gewesen war, dass die Dinge sich bewegt hatten, aber sie sahen aus wie am Abend zuvor. Ein Mausoleum für das vergangene Leben ihrer Eltern, eine Ehe, die sich aufgelöst hatte wie die ihre.
Ein Auge spähte durch einen Spalt in der Tür. Nora unterdrückte einen Aufschrei.
»Ich hab dich erschreckt!«, rief Annie lachend.
»Es ist noch zu früh zum Erschrecken.« Nora streckte sich. »Mir ist fast das Herz stehen geblieben.«
»Keine Sorge, Mama. Dein Herz ist stark.«
Manchmal fragte Nora sich, ob das tatsächlich stimmte. Sie schlüpfte in ein Sweatshirt.
»Woran hast du gerade gedacht? Du hast ausgesehen, als würdest du dich an was erinnern.«
»Ich war noch im Halbschlaf.«
Annie lächelte. »Tante Maire hat gesagt, wir sollen heute schon früh zu ihr kommen. Sie will Pflanzen aus dem Gewächshaus holen, und El und ich sollen ihr helfen.« Sie nahm den Kompass. »Hat er dir verraten, welche Richtung du einschlagen sollst?«
Nora rieb sich die Augen. »Er ist nur ein Mittel zum Zweck, Liebes. Das Ziel muss man selbst kennen.«
»Wenn du meinst.« Sie lief aus dem Zimmer und sprang auf Ellas Bett, das hörte Nora am Quietschen der Matratzenfedern. »Aufstehen, Schlafmütze!«, rief sie.
Dann ein dumpfes Geräusch, als Ella mit einem Kissen nach ihr warf.
»Aua!«
»Verschwinde, du Nervensäge!«
Wenige Minuten später saßen die beiden angezogen am Tisch und verspeisten Frühstücksflocken. Ella musterte Nora über einen Löffel voll Cheerios hinweg. (Die hatten sie schon als Kleinkinder gern gegessen; Nora erinnerte sich, wie sie jedes einzeln in die Finger genommen hatten und wie Malcolm damit eine Spur auf dem frisch gewischten Boden gelegt hatte, um die Geschichte von Hänsel und Gretel zu illustrieren.)
»Wann fahren wir nach Hause, Mom?«, fragte Ella. Die Mädchen nannten sie unterschiedlich: Mom , wenn es um ernste Themen ging; Mama , wenn sie sich einschmeicheln oder getröstet werden wollten; Mutter , wenn sie verächtlich oder
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