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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Barbieri
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dieser verlorenen Seelen wollen nichts Böses«, versicherte Maire ihr. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
    »Wir bleiben sowieso bloß den Sommer über hier«, sagte Ella zu Annie.
    »Den Sommer über.« Maire sah sie mit einem merkwürdigen Blick an, bevor sie fortfuhr. »Wal- und Garnelenfänger, Passagierschiffe, die vom Kurs abkamen, so viele verschiedene Arten von Menschen und Schiffen sind da draußen versunken – auch eine Frau, Molly Gerrin. Sie hat die Kapitänsrolle von ihrem Mann übernommen, als der über Bord gespült wurde. Ist Ende des neunzehnten Jahrhunderts zehn Jahre lang auf dem Meer unterwegs gewesen, bis sie selbst mit Mann und Maus am Solomon’s Riff unterging.«
    »Solomon’s Riff?«, wiederholte Annie.
    »So heißt der Meeresgraben, an dem nachweislich das erste Schiff versank. Benannt nach König Salomon, weil nur der entscheiden kann, wer am Leben bleibt.«
    Der Wasserkessel pfiff. Nora stand auf, um ihn vom Herd zu nehmen, Owen folgte ihr.
    »Danke fürs Kommen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte.« Nora holte einen Teller aus dem Schrank und legte Shortbread und Rosinenbrötchen darauf. »Sie scheint sich gefangen zu haben, aber …«
    »Sie war ohnmächtig?«
    »Ja. Wir haben sie im Garten gefunden. Sie behauptet, sie sei nur einen Moment lang weggetreten gewesen, ihr würde manchmal schwindlig, wegen dem Zucker. Ich wünschte, sie würde zum Arzt gehen, aber ich weiß nicht, ob ich mich einmischen darf.«
    »Deine Anwesenheit hier ist Hilfe genug.«
    »Meinst du?«
    »Stell dir vor, sie wäre allein gewesen. Hab sicherheitshalber ein Auge auf sie.«
    »Ja.« Nora zögerte. »Wegen neulich …«
    »Schon okay.«
    »Ich hätte nicht so mit dir reden dürfen.«
    »Du musst dich nicht entschuldigen. Du bist ihre Mutter. Eine gute Mutter. Das ist deutlich zu sehen.«
    Sie biss sich auf die Lippe. »Ich versuche es zumindest.«
    Er betrachtete ihre Hände, die Goldringe an ihrem Finger, die blasse Haut unter dem Diamantsolitär, dem schlichten Ehering.
    Sie krümmte die Finger.
    »Kommt er?«, erkundigte er sich.
    Sie sah durchs Fenster zum Obstgarten hinaus. »Ich bin vor ihm hierher geflohen.«
    »Und ist dir das gelungen?«
    »Ich beginne zu begreifen, dass wir der Vergangenheit niemals ganz entkommen können.«
    »Suchst du immer noch nach Antworten?«
    »Wie könnte ich damit aufhören? Ich bin verlassen worden. Damals von meiner Mutter, jetzt von meinem Mann. Das ist kein schönes Gefühl. … Und du?«
    »Möglicherweise ist es leichter, wenn ich mich nicht an alles erinnere. Hier bin ich zufrieden. Maire braucht mich. Du vielleicht auch.«
    Sie legte schweigend die Hände auf die Arbeitsfläche, neben die seinen.
    »Mom?«, sagte Ella hinter ihr. Das war eine Aufforderung, den Raum und ihn zu verlassen.
    Nora nahm das Tablett in die Hand, auf dem die Teekanne und die geblümten, goldrandigen Tassen klapperten, und kehrte zu ihrer Tante und den Mädchen am Kamin zurück, wo keine Gefahr bestand, dass Grenzen überschritten wurden.

ZWÖLF
    N ach einem Spaziergang durch die Wälder und Wiesen öffnete Maire das Friedhofstor von St. Mary’s by the Sea. Sie ging gern zu Fuß, denn das half ihr beim Denken.
    Die weiße Kirche mit dem schlichten Turm war klein, eher eine Kapelle, und bot Platz für zweihundertfünfzig Gläubige, wenn sie zusammenrutschten. Weil die Zahl der Inselbewohner stetig abnahm, kamen jedoch immer weniger. Die Kirchentür stand einen Spalt offen. Drinnen flackerten Votivkerzen. Vielleicht sollte sie eine anzünden und ein Bittgebet sprechen, dachte Maire.
    Über dem Altar befand sich ein einzelnes Buntglasfenster. Die anderen Fenster waren einfarbig, lang und schmal, die Bänke und Kniepolster abgewetzt. Die Glocke, die Ray der Pfarrer oder eines der Kinder vor dem Gottesdienst am Sonntagmorgen läutete, befand sich im Hof. Links neben dem Haupteingang war eine Plakette in die Wand eingelassen. »Erb. 1855« stand darauf. Das Gebäude hatte zahlreichen Stürmen und strengen Wintern getrotzt, ein Zeugnis des starken Glaubens hier, hätten die Frommeren der Insel wahrscheinlich gesagt.
    Das Motorrad von Pfarrer Ray, eine alte Harley, stand vor der Kirche. Maire freute sich, wenn sie ihn damit auf der Insel herumfahren sah, eine Lederjacke über dem schwarzen Talar, den weißen Kragen um den Hals, ein Lächeln auf den Lippen, eine altmodische deutsche Motorradbrille auf der Nase. Heute jedoch pflanzte er Gurken im Kirchgarten. (Das, was er nicht selbst

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