Das Mädchen in den Wellen
die Insel noch nicht vollständig. Was hier möglich ist. Ich weiß auch nicht, ob ich es verstehe, und ich bin schon mein ganzes Leben hier.«
DREIZEHN
N ora hörte das knirschende Geräusch von Autoreifen auf der mit Muschelteilchen bedeckten Auffahrt, wie der Motor ausgeschaltet wurde und der Kühler noch eine Weile knackte. Das Schlagen einer Tür, Schritte. Nora war gerade damit beschäftigt, Meerglas in Fassungen zu kleben, Löcher hineinzubohren und Glieder zu verbinden, was Konzentration und Ruhe erforderte. Noch ein oder zwei Handgriffe, dann würde sie aufstehen und nachsehen, wer das war. Polly mit der Post vielleicht oder Alison, die etwas vom Laden brachte oder einfach nur Hallo sagen wollte.
Ella spitzte die Ohren, lief hinaus in das blendende Licht der Scheinwerfer und rief: »Daddy!«
Das Stück Glas, an dem Nora gearbeitet hatte, fiel klappernd auf den Boden.
Annie hob, ein Teilchen mit der fedrigen Flosse eines Engelhais in der linken Hand, fragend den Blick von ihrem Puzzle.
Nora nickte widerwillig. Annie rannte aus dem Cottage in die Arme ihres Vaters. Durch die Vorhänge beobachtete Nora ihre Töchter und ihren Mann. Malcolm, groß gewachsen und schlank wie immer, die Haut gebräunter als bei ihrer letzten Begegnung, und die Mädchen hingen an ihm wie Kletten.
Was machte er hier?
Nora öffnete die Tür und blinzelte in das Licht, das zu dieser Zeit von Osten kam – vor ihnen lag noch ein ganzer langer Tag. Malcolm stand mit seinem Lächeln, seiner schieren Präsenz im Mittelpunkt dieses Glanzes, eine zweite Sonne, um die alles kreiste. Sie schaute an ihm vorbei auf die Straße, weil ihm meist Berater, Journalisten oder Fotografen folgten, doch da war niemand.
Ihre Blicke trafen sich über die Köpfe der Mädchen hinweg.
»Malcolm«, begrüßte Nora ihn. Egal was sie im Moment empfand, egal wie sehr ihr Herz bei seinem Anblick klopfte – weniger aus Freude als aus Furcht und Verwirrung –, sie musste vorsichtig sein.
»Nora.«
Kosenamen gehörten der Vergangenheit an.
Die Mädchen lösten sich von ihm, beobachteten sie, beobachteten ihn, beobachteten, wie sie einander beobachteten.
»Geht doch an den Strand, spielen, ja?«, schlug Nora vor. Sie hätte sich gewünscht, dass die Mädchen als Puffer bei ihr blieben, doch das hätte seinen Besuch nur verlängert und sie unnötig Spannungen ausgesetzt. Nora wollte dieses Treffen oder was es auch immer sein mochte kurz halten – ein paar Minuten, eine Stunde, höchstens ein Tag. Den Gedanken, zusammen zu essen, zu Mittag, wenn es sein musste, auch zu Abend, konnte sie ertragen. Dann würde er in den Wagen steigen und wegfahren. Sie würde sich nicht auf einen Streit oder jenes schmerzliche Gefühl des Verlusts einlassen, das sie einmal dazu gebracht hatte, fluchend ein ganzes Set Teller kaputt zu schlagen, als die Mädchen in der Schule waren. Und doch spürte sie die offene Wunde.
Ellas Blick huschte flehend von einem Elternteil zum anderen.
»Deine Mutter und ich müssen reden.« Ausnahmsweise unterstützte Malcolm Nora.
Ella machte Annie ein Zeichen. »Lass uns gehen«, sagte sie, blieb nach ein paar Schritten stehen und schaute über die Schulter zurück. »Du fährst nicht gleich wieder, oder?«, fragte sie ihren Vater.
Der Wind zerzauste seine welligen braunen Haare, durch die Nora früher so gern die Finger hatte gleiten lassen. »Ich bleibe hier«, versicherte er Ella.
Versprechungen kamen ihm so leicht über die Lippen, dachte Nora.
Die Mädchen verschwanden über die Klippe in Richtung Ruderboot.
»Das ist also das Cottage«, stellte Malcolm fest und sah sich um. »Burke’s Island.« Aus seinem Mund klangen die Worte fremd, irgendwie falsch.
Sie standen da, er in der Auffahrt, sie auf der Schwelle. Nora überlegte, ob sie ihn hereinlassen oder wegschicken sollte. Jetzt befand er sich auf ihrem Terrain. »Komm rein«, sagte sie schließlich. Das kurz aufflackernde Gefühl der Macht verebbte bereits wieder. Sie konnte ihre Töchter nicht enttäuschen, und so bot sie ihm Kaffee an, als wäre er ein Freund oder Bekannter, der auf einen Plausch vorbeischaute. »Ich muss gestehen, dass dein Besuch mich überrascht.«
»Ella hat sich bei mir gemeldet. Ich wollte die Mädchen sehen.«
Ihre Töchter würden anders als die meisten ihrer Altersgenossinnen erst mit vierzehn ein Handy bekommen. Die Trennung zwang Nora, diese Regel zu überdenken, doch damit wollte sie sich erst nach ihrer Rückkehr nach Boston beschäftigen.
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