Das Mädchen in den Wellen
nicht, dachte Nora, aber mir. Malcolm mit den Mädchen zu sehen weckte abwechselnd nostalgische Gefühle und Wut in ihr.
»Sie würde ihn bestimmt gern sehen. Alle lieben Daddy«, sagte Annie.
Ja, alle liebten Malcolm. Genau das war das Problem.
An jenem Abend beeindruckte er wieder einmal alle – die Mädchen, Maire, sogar Nora. Nach einem oder zwei Gläsern Wein fragte Nora sich, ob er tatsächlich bedauerte, was geschehen war. Nein, das war nicht die Frage. Sie wusste, dass er etwas verloren hatte. Aber wie viel? Genug, um sich zu ändern? Als er ihren Blick bemerkte, lächelte er verschwörerisch.
An jenem Abend war Owen nicht mit von der Partie. Maire hatte ihn eingeladen, doch er wollte fischen. Nora musste zugeben, dass sie erleichtert war.
Maire hatte Malcolm als großzügige Gastgeberin bei sich aufgenommen, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Es wundert mich, dass noch nicht mehr Leute die Insel entdeckt haben«, sagte Malcolm, als er Maires Rhabarberkuchen probierte.
»Hier ist es den meisten zu rau und abgelegen«, erklärte Maire.
»Genau das gefällt mir.«
»Den Leuten von der Insel und den wenigen, die sich hierher verirren, geht es auch so. Burke’s Island ist ein Ort zwischen den Orten, hat meine Großmutter immer gesagt, ein schmaler Ort.«
»So schmal sind die Leute auf der Insel aber nicht«, bemerkte Annie.
Maire lachte. »Nicht körperlich. Sie ist ein Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart, die alte und die neue Heimat zusammentreffen.«
»Und der Ort, von dem meine Frau kommt«, fügte Malcolm hinzu.
Meine Frau , als würde sie immer noch zu ihm gehören.
»Auf der Insel gibt’s Magisches und Geheimnisvolles«, erklärte Annie. »Zum Beispiel das Ruderboot.«
»Das Ruderboot? Das Ding hatte ich völlig vergessen«, gestand Maire. »Ich wusste gar nicht, dass das noch seetüchtig ist.«
»Reilly Neale hat uns geholfen, es herzurichten. Wir sind heute mit Daddy rausgefahren«, berichtete Ella.
»Unsere Großmutter ist von dem Boot verschwunden, sagt Reilly«, warf Annie ein.
»Du hast mir nie erzählt …« Malcolm wandte sich Nora zu.
»Weil es nichts zu erzählen gab.«
Unten am Strand bellten Seehunde, zuerst einer, dann ein ganzer Chor. Maire schloss das Schiebefenster. »Himmel, was für ein Krach. Sonst machen sie keinen solchen Radau.«
»Vielleicht haben sie ein Meeresungeheuer gesehen«, mutmaßte Annie.
»Ein Meeresungeheuer?«, fragte Malcolm. »Klingt interessant.«
»Wie in dem Märchenbuch von Mom«, meinte Ella.
»Das müsst ihr mir später zeigen«, schlug er vor und blickte Nora über die Köpfe der Mädchen hinweg an.
Obwohl auf dem Sofa kein Platz für alle war, drängten sie sich darauf, Malcolm in der Mitte, Nora auf der Armlehne. »Komm doch runter zu uns, Mama«, forderte Annie sie auf.
»Danke, es geht gut so, Liebes.« Sie wollte sich nicht dazwischenquetschen, hielt lieber Distanz.
»Heute soll Daddy uns vorlesen«, sagte Ella und sah Nora an.
»Es ist das Buch eurer Mutter«, stellte Malcolm fest. »Schaut, hier steht ihr Name.«
Unter dem von Maeve und Maire. Bald würden die Namen von Ella und Annie dazukommen.
»Ist schon okay«, versicherte Nora ihm. »Dann kann ich meine Stimme schonen.«
Malcolm war ein begnadeter Vorleser. Aus seinem Mund klang einfach alles interessant. Während des Jurastudiums hatte er Nora im Bett Gedichte vorgetragen. Frost. Blake. Keats. Lange sonnige Nachmittage, an denen viele Stunden schnell vergingen.
Er las die Geschichte von der selkie -Frau vor, die der Fischer im Netz fing. Der Fischer verbarg ihr Schuppenkleid, damit sie nicht wegschwimmen konnte, und sie lebte Jahre bei ihm und gebar ihm Kinder, sehnte sich jedoch immerzu nach dem Meer.
»Was meint ihr, Mädchen?«, fragte Malcolm. »Ist eure Mutter eine selkie ?«
»Sie hat kein Schuppenkleid«, antwortete Annie und betrachtete ihre Arme ein wenig enttäuscht darüber, dass nur leichter Flaum ihre Haut bedeckte.
»Was sagst du, Nora?«, erkundigte sich Malcolm.
Sie rang sich ein Lächeln ab, aber sie würde seine Spielchen nicht mitmachen, denn nicht sie war diejenige, die eines Abends gegangen und nicht wiedergekommen war. »Leider nicht.«
Die letzte Glut verglomm im Kamin. Malcolm lag auf dem Sofa, als wäre er nur des Schnarchens wegen aus dem Schlafzimmer verbannt worden. Sein edles Profil – die kräftige, gerade Nase, das markante Kinn – passte nicht so ganz zu seinem Charakter. Sein Atem ging gleichmäßig wie immer, er konnte
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