Das Mädchen in den Wellen
draußen und will rein wie die anderen Geister.«
»Sie wollte nur sicher sein, dass bei uns alles in Ordnung ist«, erklärte Annie, als wäre das völlig normal. »Du musst keine Angst haben.«
»Du hast sie nicht gesehen. Sie war schon weg, als du aufgewacht bist.«
»Vielleicht warst du nicht wirklich wach und hast schlecht geträumt. Tante Maire würde uns niemals etwas tun, auch nicht als Geist.«
»Du hast sie nicht gesehen. Du hattest die Augen zu.«
»Woher willst du das wissen? Es war dunkel. Du konntest Tante Maire bloß erkennen, weil ihre Haut so weiß war.«
Ella bekam eine Gänsehaut. »Hör auf.«
»Es stimmt aber«, beharrte Annie. »Das passiert doch, wenn man stirbt, oder? Der Tod ist nicht das Ende, sondern nur ein neuer Anfang.«
»Lass gut sein, Liebes«, sagte Nora.
»Ich will ja nur helfen.«
»Tust du aber nicht.« Ella bedachte sie mit einem wütenden Blick. »Du machst es noch schlimmer.« Sie wandte sich zu Nora. »Kann ich heute bei dir schlafen, Mom?«
»Ich auch?«, schloss Annie sich an.
»Natürlich könnt ihr das.« Nora ging, die Arme um ihre schmalen Schultern, mit ihnen in ihr Zimmer.
»Sie war da«, murmelte Ella. »Warum?«
Nora drückte ihr einen Kuss auf den Kopf. »Manchmal können Träume sehr real erscheinen.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass das kein Traum war.«
Nora suchte nach den richtigen Worten. »In uns allen steckt eine gewisse Lebenskraft«, sagte sie schließlich. »Möglicherweise wird diese Energie freigesetzt, wenn wir sterben, und erreicht die, die wir lieben.«
»Tante Maire hat uns geliebt?«
»Ja, sogar sehr.«
In den folgenden Tagen sahen sie Maire in dem Eichelhäher, der auf einem Pfosten hockte, in den Bienen, die Nektar aus den Wildblumen sammelten, einfach überall.
»Ich will nicht, dass du stirbst, Mama.« Annie kuschelte sich näher an sie.
»Ich bin ja da«, beruhigte Nora sie. Mehr konnte sie nicht versprechen. »Ich bin da.«
Am Tag der Beisetzung war der Himmel klar und blau, und in der Kirche wimmelte es von Leuten, die Maires Lieblingsfarbe trugen. Das war Annies Idee gewesen. »Schwarz würde ihr nicht gefallen, oder?«, hatte Annie gefragt. »Schwarz ist eine traurige Farbe.«
»Schwarz ist überhaupt keine Farbe«, hatte Ella erklärt. »Schwarz ist die Abwesenheit von Licht.«
»Sie hätte sich Blau gewünscht«, hatte Nora gesagt.
Und so trugen sie Blau, alle nur erdenklichen Töne, wie die Blumen, das Meer und der Himmel. Blau, so weit das Auge reichte. Blau, auf dem Maire ins Jenseits segeln konnte.
Nora und die Mädchen saßen in der vordersten Bank, Polly neben ihnen. Owen stand hinten beim Eingang. Reilly Neale wischte sich die Tränen mit einem Taschentuch ab, Pollys Vater Gerry stand neben ihm. Dazu ein oder zwei Vertreter der Scanlons. Und natürlich Alison. Maggie ebenfalls, mit grimmigem Blick. Du formte sie mit den Lippen; das glaubte Nora zumindest zu sehen. Sie wandte sich mit wild klopfendem Herzen ab. Eine weitere Konfrontation würde sie an diesem Tag nicht ertragen. Sie hoffte, dass Alisons Vater Maggie gleich nach dem Gottesdienst nach Hause bringen würde.
Nora hielt den Blick nach vorn gerichtet. In der Luft lag der schwere Geruch von Weihrauch, die Heiligenfiguren mit den traurigen Augen legten Zeugnis ab von einem weiteren Trauerfall. Pfarrer Ray hielt die Messe und sang Maire mit seiner schönen Stimme in den Himmel.
Sie gingen zur Kommunion, sprachen den Segen, ließen sich und Maire, ihren Geist, segnen. Sie riefen sich alle ihre guten Seiten ins Gedächtnis.
Polly erhob sich, um etwas zu sagen, weil sie Maire am besten gekannt hatte.
»Was soll man über seine beste Freundin sagen? Über jemanden, der immer da gewesen ist? Der einen so gut kannte wie sonst niemand? Der zu einem stand, egal was passierte?«
Ihre Stimme begann zu beben.
»Ich könnte so viele Geschichten über sie erzählen. Ja, Dad, ich sehe dich da drüben lächeln. Du weißt nur zu gut, was wir alles angestellt haben. Aber ich will mich kurzfassen. Als wir uns das erste Mal gesehen haben, war ich fünf, Maire sechs. Ist ganz schön lange her. Und trotzdem erscheint es mir manchmal wie gestern. Die besten Freundschaften sind so. Maire gehört zu den ersten Menschen, an die ich mich erinnere. Erinnerungen verblassen nie. Erinnerungen sind etwas, woran wir uns festhalten können, wenn alles andere verschwindet.
Ich habe sie im Ballettunterricht kennengelernt, als ich einen der Schritte nicht begriffen habe. Die
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