Das Mädchen in den Wellen
nicht so unhöflich und bedank dich.«
»Das ist dein Ressort«, sagte Ella.
»Was?«
»Dankbarkeit.«
Nora spürte, wie sie rot wurde. »Falls du damit Höflichkeit meinst, hast du recht. Und das Gleiche erwarte ich von dir.«
»Klar, Höflichkeit. Schau doch, wie weit uns die gebracht hat. Alle anderen dürfen behaupten, was sie wollen. Sogar irgendwelche dämlichen Leute im Internet, die uns gar nicht kennen.« Sie packte den Drachen und stapfte zu einem Felsen.
»Tut mir leid«, sagte Nora zu Owen.
»Nehmen Sie’s nicht persönlich. Sie ist zu allen so gemein«, erklärte Annie ihm. »Wir warten noch drauf, dass das anders wird.«
»Kein Problem. Ich wäre auch wütend, wenn der Drachen mir gehören würde.«
»Wo waren Sie?«, fragte Annie. »Wir haben Sie lange nicht gesehen.«
»Ich hatte auf dem Meer zu tun.«
Annie machte den Mund auf, um ihn etwas zu fragen, überlegte es sich dann aber anders.
Ella hielt den Drachen in den Armen wie ein Kind und betrachtete den Korb mit finsterem Blick. »Gibt’s heute schon wieder Fisch? Der stinkt. Den esse ich nicht.«
»Dann bleibt mehr für uns«, erwiderte Nora.
»Immer nur Fisch, Fisch, Fisch.«
»Ella Grace Cunningham«, sagte Nora streng.
»Hilfst du mir Muscheln sammeln?«, fragte Owen Annie. »In eurer Bucht finden wir die besten, vorausgesetzt, eurer Mutter macht’s nichts aus zu teilen.«
»Natürlich nicht«, versicherte ihm Nora.
Annie lief Owen voran. Nora hätte sie gern begleitet, musste sich aber mit Ella auseinandersetzen.
Ella schüttelte den Kopf über Annie. »Sollte es aber.«
»Was sollte?«
»Es sollte dir was ausmachen zu teilen.«
»Was ich tue, geht dich nichts an, meine Liebe.«
»Weil du älter und klüger bist? Bist du das wirklich? Manchmal finde ich dich nämlich überhaupt nicht klug.«
Nora traten Tränen in die Augen. »Wir tun unser Bestes. Ich. Dein Dad.« Ella gegenüber musste sie das behaupten, auch wenn sie es selbst nicht immer glaubte.
»Ich dachte, du hasst ihn. Du hasst ihn doch, oder? Gib’s zu!« Ella warf den Drachen auf den Boden und trampelte darauf herum.
Nora zog sie zu sich heran. Ellas schmaler Körper flatterte in ihren Armen wie ein kleiner Vogel, wie zuvor der Drachen im Baum.
»Lass mich los!«, schrie Ella. Ihr Ellbogen traf Nora an der Wange.
»Lass es raus«, sagte Nora leise.
Sie fielen ins Gras, wo sie eine Weile reglos und mit wild pochenden Herzen liegen blieben. Als ihre Blicke sich trafen, glaubte Nora kurz, dass Ella sich von ihr in die Arme nehmen lassen würde, dass sie endlich miteinander weinen könnten.
Doch das ging nicht, nicht an jenem Tag. Ella stand auf und rannte weg.
»El!«
Nora sah ihrer Tochter nach, wie sie in dem Wäldchen verschwand. Obwohl sie es gern getan hätte, folgte sie ihr nicht. Ella sollte nach Hause kommen, wenn sie dazu bereit war.
ACHTZEHN
M aire war zum Cottage unterwegs, als sie die lauten Stimmen hörte. Sie hatte sich oft gefragt, wie es gewesen wäre, Töchter zu haben. Obwohl sie sich einzureden versuchte, dass ihr Verhältnis zu Jamie sehr gut gewesen war – Kummer verleitete die Menschen manchmal dazu, die rosarote Brille aufzusetzen –, musste sie zugeben, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Sie hatten gestritten. Über die Drogen und darüber, dass er immer den Job verlor. Maire war nicht ganz unschuldig daran gewesen, weil sie nicht früh genug eingegriffen hatte, als ein Entzug noch möglich gewesen wäre. Deshalb hatte er bei den Eltern gelebt, nicht in einer eigenen Wohnung wie andere junge Leute seines Alters. Und er hatte für seinen Vater gearbeitet, weil der der Einzige war, der ihn noch anheuerte.
An jenem Abend zu Beginn der Hummersaison, bevor er und Joe mit dem Schiff hinausgefahren waren, hatte es wieder eine Auseinandersetzung gegeben.
»Ich hab bloß Bier getrunken«, hatte Jamie gesagt.
»Das ist auch schon zu viel.«
»Ich weiß, was ich tue. Es ist mein Leben.«
»Tatsächlich? Bist du deswegen noch zu Hause?«
»Willst du mich loshaben?«
»So habe ich das nicht gemeint …«
Sie hatte nicht gebrüllt, weil sie das selten tat und Streit hasste. Vielleicht litt sie deshalb seit ihrer Kindheit unter schrecklichen Kopfschmerzen.
An jenem grauen Morgen des Abschieds waren Jamies Ressentiments deutlich zu spüren gewesen, und Maire und Joe hatten einander wie so oft zuvor mit Blicken die Schuld gegeben. Schuld, weil sie zu viel erwartet hatte und er zu wenig.
Davon hatte sie nie jemandem erzählt.
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