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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Barbieri
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Sie hatte immer so getan, als wäre alles in Ordnung. Was hätte es auch genützt, etwas anderes zu behaupten? Sie hatte gesagt, Joe brauche Unterstützung. Er könne in seinem Alter und mit seinem schlechten Herzen nicht allein hinausfahren. Was stimmte. Doch es war komplizierter gewesen, wie so oft im Leben. Jamie, der hilfsbereite Sohn, der selbst Hilfe benötigte.
    Wie anders hätte ihr Leben verlaufen können, wenn sie selbst anders gewesen wäre? Ein anderer Mann. Ein anderes Kind. Ein anderes Schicksal.
    Niemand wusste das über sie. Sie verbarg es hinter ihrer gelassenen Miene, ihrer augenscheinlichen Zufriedenheit. Mit ihrer Gelassenheit beruhigte sie werdende Mütter, half ihnen, Kinder auf die Welt zu bringen. Mit ihrer Gelassenheit ermutigte sie ihre Nichte. Und täuschte sie. O ja, auch sie täuschte die Menschen.
    Sie hatte Nora nicht alles gesagt. Hatte ihr nichts von ihrer letzten Begegnung mit Maeve erzählt. Maire hatte sie aufgesucht. Maeve war völlig aufgelöst gewesen, ihr Blick hatte gehetzt gewirkt.
    »Was ist los? Habt ihr euch gestritten?«, hatte Maire gefragt. In den Wochen davor waren die Auseinandersetzungen zwischen Maeve und Patrick eskaliert. Patrick hatte ein Jobangebot in Boston bekommen, ohne sich um die Stelle beworben zu haben, doch Maeve hatte geglaubt, von ihm hintergangen worden zu sein. Manchmal hatten Maire und ihre Eltern sie in Cliff House gehört und sich über den Esstisch hinweg vielsagend angesehen, bevor ihre Mutter aufstand, um das Schiebefenster zu schließen.
    »Das würde dir so gefallen, was?«
    Maires Herz hatte wie wild geklopft. So unrecht hatte Maeve nicht, denn ein Teil von ihr hatte sich gefragt, was nötig wäre, damit Patrick ihre Schwester verließ. »Wie meinst du das?«
    »Du kommst ständig hierher …«
    »Du bist meine Schwester. Ich will nur helfen.«
    »Ach, wirklich? Willst du nicht eher sehen, ob was für dich abfällt?«
    »Ich weiß nicht, was du meinst.«
    »O doch. Es ist dir deutlich anzumerken.«
    »Was?«
    »Dass du ihn willst. Immer schon gewollt hast.«
    »Das stimmt nicht!«
    »Hör auf, ihm schöne Augen zu machen. Er ist mein Mann. Meiner!« Maeve hatte sie gestoßen.
    Maire hatte zurückgestoßen. »Warum machst du dir Gedanken, wenn er dir gehört?«
    »Ich mache mir keine Gedanken. Du bist keine Konkurrenz für mich. Das warst du nie. Ich mag mich nur nicht mehr mit deinem Neid auseinandersetzen. Such dir selber einen Mann, ja? Ach, das kannst du nicht?«
    »Verdammt, Maeve, fahr zur Hölle.«
    Im Hintergrund hatte Nora der lauten Stimmen wegen geweint.
    Maire war weggelaufen. Sie hatte ihre Schwester verflucht. Und es hatte ihr nicht leidgetan, erst als Maeve verschwunden war und Maire gemerkt hatte, welche Macht Worte besitzen konnten.
    Die Gegenwart. Sie befand sich in der Gegenwart. Im Hier und Jetzt, das sich veränderte. Eine Möwe landete mitten auf der Straße und starrte Maire an, riss einmal kurz den Schnabel auf und flog flügelschlagend zum Himmel empor. Weiße Blitze, überall, über dem Haus und den Bäumen.
    Was ist los mit meinen Augen?
    Plötzlich konnte sie nichts mehr sehen …
    Ein stechender Schmerz im Kopf.
    Dann kippte die Wiese weg. Die Bäume wuchsen mit den Wurzeln nach oben aus dem Himmel, Schmutz regnete herab und begrub sie. Der Geruch von Erde erfüllte ihre Lungen. Sie konnte sich nicht bewegen, nur zusehen, wie die Welt sich drehte, wie die Grashalme sirrten, die Wolken an den Nähten aufplatzten.
    »Nora!«, rief sie, wie vor so vielen Jahren.
    Jetzt war sie diejenige, die gefunden werden wollte.
    Schritte? Das Blut rauschte in ihren Ohren. Die Flut …
    »Tante Maire. Maire, kannst du mich hören?«
    Noras Gesicht dicht über ihr, der Mund eine klaffende Wunde, die Haut weiß. Alles weiß …
    »Kopfweh. Ich kann nicht …«, murmelte sie. Sie konnte sich nicht bewegen. Warum nicht? Erstarrt. Weiß …
    »Ich hole Hilfe …«
    »Halt meine Hand. Halt …« Wie Maire es immer den Gebärenden sagte. Wie sie es Maeve gesagt hatte, kurz vor der Entbindung.
    Nora. Nora musste das Muster durchbrechen, wiederfinden, was verloren war. Wenn nur mehr Zeit gewesen wäre …
    »Maire.«
    Ein Rauschen in ihren Ohren. Das Meer. Ihr Blut. Ein und dasselbe.
    Anfang und Ende. Wie leicht alles war. Klar wie mit der Hand geschöpftes Wasser.
    Polly lenkte den Van so schnell in die Auffahrt, dass die Post sich über den Sitz ergoss. Nora nahm sie aus den Augenwinkeln wahr, als sie, die weinenden Mädchen im

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