Das Mädchen in den Wellen
Stimmen, die von Maire erzählten, von Erinnerungen, vom Kummer. Nora holte tief Luft und trat ein.
»Wie geht’s?« Alison gesellte sich zu ihr. »Ist er weg?«
Nora vergewisserte sich, dass die Mädchen sie nicht hören konnten, bevor sie antwortete. »Ja.«
»Was wollte er hier?«
»Er hat seinen Fall vorgetragen.«
»Was für einen Fall?«
»Dass er weiter in unserem Leben bleiben möchte. In meinem Leben. Und uns unterstützen will, wenn es ihm in den Kram passt.«
»Wie großzügig von ihm.«
»Er ist kein schlechter Mensch, aber möglicherweise nicht mehr der Richtige für mich.«
»Klingt wie eine Entscheidung.«
Nora atmete tief ein. »Ja, ich nähere mich einer Entscheidung, doch im Moment ist alles ziemlich chaotisch. Ich stehe nach wie vor unter Schock.«
»Ich denke auch die ganze Zeit, dass Maire jeden Augenblick reinkommt und uns sagt, dass wir mit der Heulerei aufhören sollen.«
»Ja, sie würde wollen, dass wir lachen, nicht wahr?«
»Und tanzen. Vor Joes Tod hat sie gern getanzt. Hat sie Ihnen je ihre Pokale gezeigt?«
Nora schüttelte den Kopf. Die standen bestimmt in einem Schrank. Vermutlich gab es vieles, das Maire ihr nicht erzählt hatte. Sie hatten verlorene Zeit wettgemacht, bis es keine mehr gab.
»Es ist so unerwartet passiert«, sagte Alison.
Nora ging mit ihr zu einem unbesetzten Tisch am Fenster. Draußen hockten zwei Krähen auf nebeneinanderstehenden Grabsteinen wie Bestattungsunternehmer, und Schwalben erhoben sich immer höher in die Luft. Bei einem Stillleben mit leerer Teetasse und zerknüllten Servietten erzählte Nora Alison, was sie von Dr. Keane wusste. Dass sie nichts hätten tun können. Die Schwindelanfälle und Maires Vergesslichkeit; Maire, die früher nie einen Namen oder ein Gesicht vergessen hatte, und jetzt die zahllosen Zettel als Erinnerungshilfen. Nora war nicht klar gewesen, dass das Symptome einer schweren Krankheit waren, Symptome, die Maire vermutlich dazu veranlasst hatten, Nora zu kontaktieren, um sie als Erbin ihrer Vergangenheit einzusetzen. Gegen ihr Leiden, zerebrale Amyloidose, das Gedächtnisverlust sowie immer stärkere Schlaganfälle auslöste und zum unwiderruflichen Verfall und schließlich zum Tod führte, gab es kein Mittel.
»So hätte sie nicht leben wollen«, stellte Nora fest.
»Das würde niemand wollen.«
»Also war es das Beste so.«
»Ein Segen.«
Obwohl es den Hinterbliebenen nicht wie ein Segen erschien.
Sie kehrten zum Cottage zurück und zogen die Trauerkleidung aus. Nora den schmalen Rock und die Bluse, die sie für festlichere Anlässe mitgenommen hatte; ein blaues Tuch von Maire; die Schuhe mit den hohen Absätzen, die nach dem stundenlangen Stehen drückten. Alles geschlossen und zugeknöpft, die Kleidung, ihre Gefühle, während sie sich um die anderen, die Mädchen, Maires Freunde, kümmerte, wie Maire es getan hätte.
Nun legte sie alles ab. Sie hatte das Gefühl, aus dem Haus herauszumüssen, das sie erdrückte. Aus einer Schublade lugte der Träger eines Badeanzugs, den sie noch nicht getragen hatte, weil Malcolm ihn so gern mochte und er sich nicht sonderlich gut zum Schwimmen eignete. Doch die anderen Badesachen hingen feucht draußen auf der Wäscheleine, und so zog sie ihn an.
»Wo willst du hin?«, fragte Ella, als Nora durchs Wohnzimmer ging.
»An den Strand, schwimmen.«
Sie waren so in ihr Kartenspiel vertieft, dass sie nicht fragten, ob sie mitkommen durften.
Nora machte sich auf den Weg zur Klippe. Sollte sie nachsehen, ob Owen da war? Nein, sie hatte nicht die Energie für eine Auseinandersetzung. Sie sehnte sich danach, das Meer zu spüren; der wolkenverhangene Himmel und das drohende Gewitter schreckten sie nicht ab. Das Blau der Beerdigung war verschwunden, die Luft feucht und schwül.
Nora würde nicht zaghaft einen Zeh ins Wasser strecken. Sie wollte alles oder nichts. Sie stand auf dem Felsen, von dem aus Malcolm, bewundert von den Mädchen, einen ziemlich spektakulären Salto hingelegt hatte. Nora streckte die Arme über den Kopf, hielt die Luft an und sprang.
Die Kälte des Wassers raubte ihr den Atem. Im Augenblick des Eintauchens stieß sie einen markerschütternden Schrei aus, so dass die Fische vor dem brüllenden Wesen in ihrer Mitte flüchteten. Luftblasen stiegen an die Oberfläche, bis sie wieder auftauchte und das Meerwasser, vermischt mit ihren Tränen, von ihrem Körper abperlte. Sie drehte sich auf den Rücken, ließ sich in der Strömung treiben, blickte hinauf ins
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