Das Maedchen mit dem Flammenherz
du gedroht, sie aus dem Fenster zu werfen?«
Sie musste sich auf die Lippen beißen, um nicht herauszuplatzen. Es klang so absurd, vor allem, wenn er es mit diesem langsamen, melodischen Akzent aussprach. »Ja, habe ich.«
Jetzt sah er sie an, die grünen Augen waren verletzt und zornig zugleich. »Warum tust du so etwas mit jemandem, der kleiner und schwächer ist als du?«
Empört stemmte Finley die Hände in die Hüften. »Klein mag sie ja sein, aber schwach ist sie bestimmt nicht. Sie ist eher wie ein kleines wildes Tier, das niedlich und süß aussieht und dir die Augen auskratzt, wenn du ihm zu nahe kommst.«
Jaspers Miene verdüsterte sich. »Das ist sie nicht.«
»Ich habe ihr nicht einmal wehgetan«, fuhr Finley fort. »Ich habe sie ein bisschen an den Haaren gezogen und über die Fensterbank geschoben. Natürlich hätte ich sie nicht fallen lassen.« Das war sogar beinahe ehrlich. Sie hätte die kleine Zicke mit Freuden hinabgestürzt, wenn diese ihr einen guten Grund gegeben hätte.
»Du hast ihr Angst gemacht«, warf er ihr vor. »Was hat sie dir getan?«
»Sie ist in mein Zimmer gekommen und hat mir eine Szene gemacht. Als ich aufgebracht reagiert habe, hat sie mich geschla gen, und dann hat sie so getan, als erstickte sie an ihrem Kragen. Was sagst du dazu? Du weißt, dass ich sie hätte ernstlich verletzen können, wenn ich es gewollt hätte, und das habe ich nicht getan. Ich bin nicht wie Dalton.« Darum ging es doch im Grunde, oder? Jasper machte sich Sorgen, sie könnte sich so weit mit Dalton einlassen, dass sie den Rückweg nicht mehr fand.
»Ich weiß.« Er wirkte jetzt wie ein Kind, dem jemand das Lieblingsspielzeug weggenommen hat. »Warum magst du sie nicht?«
Finley schnaubte. »Ich sollte wohl eher fragen, warum du sie so sehr magst.«
»Du hast nicht gesehen, wie reizend sie sein kann. Es ist schwer, gelassen zu bleiben, wenn man in Lebensgefahr schwebt.«
»Für eine Gefangene hat sie es hier ziemlich gut. Dalton behandelt sie wie ein Zuckerpüppchen.«
Jaspers Wangen röteten sich vor Wut. »Er könnte sie töten, wann immer er es will, und dazu muss er sie nicht einmal berühren.«
»Hör mal, ich verteidige Dalton ganz sicher nicht.« Auch Finleys Zorn erwachte. »Ich kann Mei einfach nicht leiden.«
»Sie hatte es nicht leicht. Als ich sie kennengelernt habe, versuchte ein Mann namens Venton, sie zur Prostitution zu zwin gen. Sie und ihre Familie waren noch nicht lange in den Staaten und hatten Angst. Mei war tapfer. Ich brachte sie zu Donaldina Cameron, die Chinesinnen rettet und ihnen eine Ausbildung zukommen lässt.«
Das besänftigte Finley ein wenig. Der Sohn ihres früheren Arbeitgebers hatte sie angegriffen, deshalb empfand sie Mitgefühl für das Mädchen. Finley war damals immerhin stark genug gewesen, um den Kerl bewusstlos zu schlagen.
»Sie hat sich nie über ihr Leben beklagt. Wenn Miss Donaldina neue Mädchen aufnahm, hat Mei ihnen immer geholfen. Manchmal hat sie sogar selbst gefährliche Rettungsmissionen unternommen.«
Na gut, so langsam fühlte sie sich mies, weil sie Mei aus dem Fenster gehalten hatte. »Meinetwegen, sie hatte also ein schweres Leben. Na schön.«
Jasper schüttelte den Kopf. »Du verstehst es nicht, weil du nicht dabei warst. Mei hat sich sehr bemüht, etwas zu verändern, doch es ist ihr nicht gelungen. Eines Abends erfuhr Venton von Dalton, wo sie zu finden war. Ich bin nicht rechtzeitig dort eingetroffen.«
Einen schrecklichen Augenblick lang dachte Finley, Mei sei vergewaltigt worden, doch Jaspers Miene schien ihr nicht entsetzt genug zu sein. Es sah eher nach … Bedauern aus. Dann endlich konnte sie die Teile zusammenfügen.
»Jasper, ist Venton der Mann, dessen Ermordung man dir vorwirft?«
Er sah sie an, wandte den Blick ab und nickte. »Ja, das ist er.«
»Du hast ihn aber nicht getötet, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
Mei hatte ihn getötet. Mei hatte den Mann getötet, der sie zur Prostitution hatte zwingen wollen. Zweifellos hätte er sie vorher selbst vergewaltigt. Männer wie er waren durch und durch böse.
Verdammt auch, Jaspers Worte hatten wirklich ihr Mitgefühl für Mei geweckt. Fast begann sie sogar, das Mädchen zu mögen. Wer den Mut hatte, sich in einer solchen Situation zu wehren, verdiente ein wenig Respekt. Sie wollte es gerade aussprechen, als die Tür geöffnet wurde.
»Da seid ihr ja«, dröhnte Dalton mit aufgesetzter Freundlichkeit. »Ich habe euch schon gesucht. Jasper, können
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