Das Maedchen mit dem Stahlkorsett
War es wirklich denkbar, dass der Mörder seine Eltern gut gekannt hatte?
Verdammt auch, vielleicht kannte er den Mann sogar selbst.
»Da kannst du nicht sicher sein«, antwortete Emily. »Tu ja nichts Überstürztes.«
Nein, er wollte nicht impulsiv vorgehen. Vielmehr musste er vorsichtiger sein denn je. Wenn der Maschinist seine Eltern und Finleys Vater gekannt hatte, dann waren ihm alle ihre Geheimnisse ebenso bekannt wie ihre Schwächen. Es wäre schwierig, ihn zu erwischen, doch Griffin würde es schaffen.
Er würde die Sache zu Ende bringen und seinen Eltern Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Die schwarze Strähne war weiter gewachsen und breiter geworden. Finley konnte sie nicht länger ignorieren, und inzwischen war auch völlig klar, wie sie entstanden war. Es hatte angefangen, als sie mit Griffin daran gearbeitet hatte, die Kontrolle über ihre dunkle Seite zu gewinnen, als die beiden Hälften ihrer Persönlichkeit zu einem Ganzen verschmolzen waren. Gestern Abend hatte sie wenigstens noch den Anschein von Selbstbeherrschung gewahrt, und ihr Schatten war noch deutlicher zu etwas geworden, das zu ihr gehörte.
Sie band sich die Haare zurück und fixierte sie unordentlich am Hinterkopf. Nach dem Kampf gegen Sam war sie noch ein wenig steif und wund, doch die blauen Flecken verblassten auch ohne Emilys Biesterchen.
Ob sich Sam schon erholt hatte? Griffin wusste inzwischen sicher, dass sie sich abgesetzt hatte. War er wütend oder doch eher froh, sie los zu sein? Egal. Sie hatte sich entschieden zu gehen, und jetzt musste sie damit leben.
Sie zog ein Hemd und ein langes orientalisches Kleid aus violetter Seide mit aufgestickten goldenen Drachen an. An den Seiten hatte es Schlitze, die das Gehen erleichterten – oder ihr Bewegungsfreiheit schenkten, falls sie in einen Kampf geriet und die Beine einsetzen musste. Vor ein paar Wochen hätte sie an so etwas nicht einmal im Traum gedacht. In der kurzen Zeit unter dem Dach des Duke of Greythorne hatte sie sich sehr verändert. Überwiegend zum Besseren, wie sie hoffte.
Wenn sie aber daran dachte, wie sie unter Griffins Dach die Beine gegen Sam eingesetzt hatte, wurde ihr übel.
Nachdem sie die Strümpfe an den Strumpfhaltern befestigt hatte, zog sie die Stiefel an und verließ das Schlafzimmer. Vermutlich benutzte Jack diesen Raum selbst, wenn er, selten genug, einmal hier übernachtete. Er war mit Kirsch- und Ebenholz eingerichtet, voll weichem Samt und glatter Seide, mit einem riesigen Himmelbett, in dem mühelos vier Erwachsene schlafen konnten. Es schien ein wenig übertrieben, aber Jack war offenbar kein Mann, der halbe Sachen machte.
Es war nett von ihm gewesen, ihr sein Zimmer zur Verfügung zu stellen, und er hatte sich als perfekter Gentleman erwiesen – ein Prädikat, das ihm sicher nicht viele Zeitgenossen zugestanden hätten. Er hatte keine Fragen gestellt, und sie hatte von sich aus nichts erzählt. Wie konnte sie ihm auch anvertrauen, dass sie beinahe jemanden getötet hätte? Doch wenn irgendjemand verstehen konnte, wie sie sich fühlte, war es vermutlich Jack.
Sie ging den schmalen Flur hinunter. Auf dem dicken, gemusterten Läufer schritt sie trotz der schweren Stiefel fast lautlos aus. Der Läufer setzte sich das verwinkelte Treppenhaus hinunter fort und schmückte unten die schimmernden Eichen dielen mit roten, goldenen und blauen Farbtönen. Jack Dandy hatte den Geschmack eines Aristokraten, die Ehre eines Gentleman und das Herz eines Piraten. Wie konnte er nur damit leben, dass er so viele Gesichter hatte? Vielleicht würde er sie in seine Geheimnisse einweihen.
Sie fand ihn in dem Salon, wo sie bei ihrem ersten Besuch gesessen und miteinander geredet hatten. Bei Tageslicht wirkte der Verbrecher ganz anders – lange nicht mehr so gefährlich. Jack – irgendwie kam er ihr nicht mehr wie Mr. Dandy vor – hockte auf der Schreibtischkante und hatte die langen Beine, die in polierten schwarzen Stiefeln steckten, übereinandergeschlagen. Heute war er ganz in Schwarz gekleidet, und sogar die nachlässig geknüpfte Krawatte bestand aus schimmernder schwarzer Seide.
Die langen Haare waren feucht und pendelten über seinen Schultern, während er in ein barockes Telefon sprach. Er musste wirklich reich sein, wenn er sich so ein Ding leisten konnte. »Ich pfeif auf die Etikette, Knobby«, knurrte er gerade in den Hörer. »Wenn ich dir sag, dass du was machen sollst, dann machst du das. Gibt es in deinem schwachsinnigen Gehirn
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