Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
und Zeichen. Euer Mond steht im Krebs im vierten Haus, Euer Skorpion im achten Haus.«
Er schaute sie an – etwas wie Verwunderung, aber auch Respekt lag in seinem Blick. »Ich habe viele Horoskope in meinem Leben gesehen, Mademoiselle. Auch die von Menschen, die fähig waren, Aussagen und Prophezeiungen über die Zukunft zu machen«, sagte er. »Aber in keinem war die Gabe der Hellsichtigkeit so klar lesbar wie in dem Euren! Sie durchdringt alles in Eurem Horoskop – Euren eigenen Lebensweg genauso wie den anderer Menschen.«
Madeleine betrachtete die Verbindungslinien, die er bei seinen Worten mit den Fingern nachgezeichnet hatte. Sollte ihr Leben sich tatsächlich in solcher Weise auf diesem Papier spiegeln? Sie musste plötzlich daran denken, was der Chirurg, Ambroise Paré, zu ihr gesagt hatte, als er hörte, dass sie Ruggieri kennengelernt hatte. »Ihr werdet sicherlich Eure eigene Erfahrung mit der Astrologie machen, Mademoiselle. Ich für meinen Teil habe stets nur erlebt, dass mir diese Leute Dinge sagen, die ich entweder schon selber wusste oder die aber so allgemein sind, dass über ihren Wahrheitsgehalt ohnehin kein Zweifel besteht.«
In gewisser Weise stimmte das. Nichts, was Ruggieri eben gesagt hatte, war gänzlich neu für sie, und doch bekam es durch seinen Mund eine andere, tiefere Bedeutung für sie. Sie spürte, dass der Astrologe ehrlich zu ihr war und nicht versuchte, ihr etwas vorzumachen.
Aufmerksam hörte sie Ruggieri zu, als er fortfuhr, darüber zu sprechen, was die Sterne über sie verrieten. »Eure Fähigkeit ist etwas, das nicht nur Ihr allein habt. Seht Ihr …« Sein Finger tippte auf verschiedene Zeichen in den Abschnitten des Rads und auf die Linien, die sich über das Horoskop zogen. »Das hier ist das Haus, das symbolisch auch für Eure Mutter steht. Und diese Verbindung der Planeten hier zeigt, welche Dinge Ihr von Euren Ahnen in dieses Leben mitbringt. Es steht alles im direkten Zusammenhang mit Eurer Gabe.« Er schaute sie aus seinen kohlrabenschwarzen Augen an. »Es liegt in Eurer Familie. Eure Mutter war ebenfalls fähig, Ereignisse der Zukunft zu erkennen, nicht wahr?«
»Meine Mutter? Nein, ganz sicher nicht.« Madeleine schüttelte entschieden den Kopf. »Sie hat immer behauptet, ich würde mir diese Dinge nur einbilden«, erzählte sie.
»Wirklich!?« Ruggieri hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen.
Madeleine schwieg. Seine Reaktion verunsicherte sie. Zweifel kamen ihr plötzlich. Ihre Mutter? Konnte das sein? Aber warum hatte sie ihr dann verboten, über ihre Visionen auch nur zu reden? Dann erinnerte sie sich mit einem Mal an die Worte der Äbtissin, daran, wie sie behauptet hatte, ihre Mutter hätte von ihrer Gabe gewusst und habe ihr nur untersagt, darüber zu sprechen, um sie zu schützen. Doch die Nonne hatte nicht erwähnt, dass ihre Mutter auch dazu fähig gewesen war.
Madeleines Mund fühlte sich trocken an. Nein, die Äbtissin nicht, aber jemand anderes hatte es unbeabsichtigt getan. Sie sah plötzlich das Gesicht der Oberin vor sich. Ich weiß, wessen Brut du bist! Madeleines Hände krampften sich in den Stoff ihres Rocks. Sie entsann sich wieder, wie oft sie ihre Mutter im Gebet gesehen hatte und dass diese manchmal gewirkt hatte, als würde sie gegen etwas ankämpfen.
Sie blickte Ruggieri an. »Mein Gott«, entfuhr es ihr leise.
»Alle Antworten liegen in Euch selbst verborgen«, sagte der Magier zum zweiten Mal zu ihr, und sie verstand erst jetzt, was er damit meinte. So viele kleine Dinge und Begebenheiten, die sie nie verstanden hatte, ergaben plötzlich einen Sinn. Selbst die Härte, die ihre Mutter oft gezeigt hatte, dachte Madeleine. Warum hatte sie zuvor nie darüber nachgedacht, dass ihre Mutter nur deshalb verfügt hatte, dass sie ins Kloster von St. Angela kommen sollte, weil sie aus eigener Erfahrung wusste, die Äbtissin würde ihr helfen können? Die Art von Hilfe, wie ihre Mutter sie sich für sie gewünscht hatte – die Visionen zu unterdrücken und sie nicht zu beachten, damit sie dadurch nicht in Gefahr gebracht wurde. Doch Madeleine wusste, dass sie selbst dazu nicht in der Lage sein würde. Das Erlebnis mit Françoise hatte sie gelehrt, dass weit schlimmer noch, als die Visionen erleben zu müssen, die Schuld war, die sie empfand, wenn sie nicht eingriff. Ihr Weg war ein anderer.
Sie merkte, dass Ruggieri sie beobachtete. »Erzählt mir etwas über Eure Visionen«, sagte er.
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