Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
»Kündigen sie sich Euch vorher in irgendeiner Weise an?«
»Ihr meint, ob es Vorzeichen gibt?«, erwiderte Madeleine zögernd. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es, was sie mir so schrecklich erscheinen lässt. Sie kommen willkürlich, wie aus dem Nichts zu mir. Als würde sich für einen kurzen Augenblick ein Fenster in der Zeit öffnen.«
In den schwarzen Augen des Magiers zeigte sich Neugier.
»Ihr könnt das alles auf einmal sehen, so wie ein Bild?«, fragte er.
»Nein, nicht auf einmal«, erwiderte sie. »Meistens höre ich erst Geräusche oder Töne, und dann tauchen die Bilder in Bruch stücken auf und setzen sich zusammen. Es ist wie ein Sog, so ungeheuer stark …« Madeleine verstummte, bevor sie schließlich weitersprach. »Das Zurückkommen ist am schrecklichsten. Ich verliere das Bewusstsein, und im ersten Moment danach weiß ich weder, wo ich bin, noch, was geschehen ist«, erklärte sie dann.
Ruggieri warf ihr einen durchdringenden Blick zu. »Das ist Eure Angst! Ihr müsst Euer Bewusstsein stärken, nur dann werdet Ihr fähig sein, diese Dinge besser zu steuern.«
»Ich glaube nicht, dass ich das jemals können werde«, gab Madeleine ihm voller Zweifel zur Antwort. Ein resignierter Zug zeigte sich auf ihrem Gesicht. Ihr ging auf, dass sie noch immer hoffte, die Visionen würden einfach nicht wiederkehren.
»Ihr müsst, sonst werdet Ihr ihnen immer ausgeliefert sein«, sagte der Magier mit ungewohnter Strenge. Er beugte sich zu ihr. »Stellt Euch Euer Bewusstsein wie ein Schiff vor. Eure Emotionen, Eure Angst und Furcht sind wie die Elemente – der Sturm, der Wind und die tosenden Wellen, die Euch bald in die eine, bald in die andere Richtung zu werfen drohen. Ihr müsst lernen, ihnen standzuhalten, sonst seid Ihr den Kräften immer hilflos ausgeliefert – und genau davor fürchtet Ihr Euch am meisten!«
Madeleine seufzte niedergeschlagen. »Wie sollte man das jemals lernen können?«, fragte sie.
Er lächelte leicht. »Durch Übung, ma chère. Ich werde es Euch zeigen«, sagte er.
Er stand auf und entzündete die Kerze eines Leuchters, die er an den Tisch brachte. »Richtet Euren Blick auf die Flamme!«, befahl er. »Konzentriert Euch allein darauf und versucht, jeden anderen Gedanken und jedes Gefühl auszuschalten!«
Es hörte sich einfach an, doch war er überraschend schwer, musste Madeleine feststellen. Es gelang ihr kaum länger als einige Sekunden.
Der Magier lächelte weise. »Mit der Zeit wird es Euch besser gelingen. Es wird Eure Konzentration schulen und Euren Geist und Euer Bewusstsein stärken.«
Er zeigte ihr noch eine weitere Übung. Sie sollte sich ein Kreuz vorstellen und sich bemühen, das Bild in festen Konturen und Farben vor ihren Augen zu behalten.
Es war fast noch schwieriger, als sich auf die Flamme zu konzentrieren, stellte Madeleine entmutigt fest. Ruggieri trug ihr auf, die Übungen mehrmals am Tag durchzuführen und die Zeit dabei langsam immer weiter auszudehnen.
»Und das soll mir helfen, meine Angst zu bekämpfen, wenn ich wieder eine Vision habe?«, fragte Madeleine zweifelnd.
»Ja, denn Ihr lernt dadurch Euer Bewusstsein zu lenken. Es gibt Menschen, deren Geist so stark ist, dass sie sich von körper lichen Empfindungen lösen können und sogar unempfindlich gegenüber Schmerz werden!«
Madeleine blickte Ruggieri an. Die Dinge, die er ihr erzählte, verwirrten sie, doch dann erinnerte sie sich an den Moment im Verlies, als der Herzog d’Aumale auf sie eingeschlagen hatte. Sie hatte verzweifelt versucht, an etwas anderes zu denken, und um sich mit einem Mal einen roten Nebel wahrgenommen, in den sie tief hineingetaucht war. Es war ihr vorgekommen, als hätte sie sich von ihrem eigenen Körper gelöst – irgendwann hatte sie plötzlich keinen Schmerz mehr verspürt, und auch ihre Angst war verschwunden. Ob Ruggieri diesen Zustand meinte?
Sie führte die Übungen, die der Magier ihr gezeigt hatte, regelmäßig aus. Anfangs gelang es ihr kaum, sich länger als ein, zwei Atemzüge auf die Flamme oder das Kreuz zu konzentrieren, doch schließlich verbesserte sie sich. Etwas geschah mit ihr. Ihr Atem wurde beim Anblick der Flamme ruhiger, und auch das imaginäre Kreuz bekam kräftigere Konturen und Farben, die vor Augen zu behalten ihr immer länger gelang.
Sie spürte, dass sich die Übungen insgesamt wohltuend auf sie auswirkten. Ihre Albträume, die sie seit der Folterung immer wieder hatte, wurden weniger. Sie schlief tiefer und fester und
Weitere Kostenlose Bücher