Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
geschrieben waren. Bücher und Schriftrollen türmten sich im gesamten Zimmer, nicht nur in den Regalen, sondern überall, wohin man sah – auf dem Schemel, den kleinen Tischen, ja selbst auf dem Boden. In der Mitte des Raumes stand ein großer ovaler Tisch, der überladen war mit ausgebreiteten Papieren, auf denen eigenartige kreisförmige Zeichnungen und Berechnungen zu erkennen waren. Mehrere Zirkel lagen daneben. Obwohl durch die Fenster auf der anderen Seite des Gemaches noch Tageslicht drang, brannten in einem mehrarmigen, mit Symbolen beschrifteten Leuchter Kerzen. Noch seltsamer und einschüchternder als der gesamte Raum war jedoch der Mann, der sich darin befand. Er stand vor dem ovalen Tisch und trug ein langes schwarzes Gewand mit weiten Ärmeln, das ebenfalls mit eigenartigen Zeichen bestickt war. Sein pechschwarzes Haar fiel ihm ins Gesicht, während er die Zeichnungen und Berechnungen vor sich studierte – beinah so, als hätte er ihr Eintreten gar nicht bemerkt. Doch dann drehte er sich mit einem Mal in aller Ruhe zu ihnen herum.
»Euer Majestät! Ihr hättet Euch nicht selbst hierher bemühen sollen. Warum habt Ihr mich nicht rufen lassen?«, sagte er mit einer tiefen, samtigen Stimme. In seinen Worten schwang der gleiche harte italienische Akzent wie bei der Königinmutter. Er verbeugte sich höflich, ohne dass seine Haltung dabei etwas Untertäniges anzunehmen schien.
Die Medici winkte ab. »Nein, so ist es besser. Ich wollte Euch jemanden vorstellen. Das ist Madeleine. Ihr erinnert Euch, dass ich Euch von ihr erzählt habe?«
»Wie könnte ich mich nicht daran erinnern!«, erwiderte er gewandt.
»Madeleine, das ist Monsieur Ruggieri – er ist Astrologe, und zwar der beste, den ich je getroffen habe! Ein Meister seines Fachs«, stellte die Königinmutter ihn nun vor.
Ruggieri – der schwarze Zauberer der Medici? Madeleine erschrak. Die Königinmutter hätte ihn nicht vorstellen müssen. Sein Name war bekannt genug. Wer hatte noch nicht von ihm gehört?
Der Astrologe schaute sie an. Ihr erster Impuls war, auf der Stelle wegzurennen, denn sein Blick hatte etwas gleichermaßen Beängstigendes wie Unheimliches. Er verweilte kurz auf ihrer äußeren Erscheinung, bevor seine Augen weiter durch sie hindurchzudringen schienen, als würde er in aller Ruhe jede Schicht ihres Selbst betrachten, ohne dass Madeleine etwas dagegen tun konnte. Sie hatte das Gefühl, der Magier würde in ihr lesen können wie in einem Buch und ihre ureigensten Ängste und Befürchtun gen genauso erkennen wie ihre geheimsten Wünsche und Träume. Instinktiv wollte sie seinem Blick ausweichen, doch gleichzeitig kämpfte ein Teil von ihr dagegen an. Sie wollte sich nicht einschüchtern lassen! Sie zwang sich, standzuhalten und ihm weiter in die Augen zu schauen. Ein überraschter Ausdruck blitzte in Ruggieris Gesicht auf. Dann war mit einem Schlag alles vorbei. Er neigte höflich den Kopf und lächelte leicht. »Es ist mir eine Freude, Eure Bekanntschaft zu machen, Mademoiselle!«, sagte er.
»Danke«, erwiderte sie, brachte es aber nicht über sich, die von ihm ausgesprochene Höflichkeitsfloskel in der gleichen Weise zu erwidern. Sie war sich alles andere als sicher, ob es sie erfreute, ihm hier gegenüberzustehen. Diesem Mann würde sie nichts vormachen können, und sie verstand, warum die Medici sie zu ihm gebracht hatte. Gleichzeitig, musste sie zugeben, war jedoch auch ihre Neugier geweckt.
Die Königinmutter ließ sie allein. »Vertraut Monsieur Ruggieri, er wird es Euch lohnen«, empfahl sie Madeleine, bevor sie den Raum verließ.
Der Astrologe bot Madeleine einen Stuhl an. Sie nahm zögernd darauf Platz und spürte, dass er darauf wartete, dass sie zuerst etwas sagte. Ihr Blick glitt erneut durch den Raum und blieb an den dunklen Stoffbahnen hängen.
»Was sind das für Zeichen?«, fragte sie.
»Es sind Symbole und Piktogramme. Aus der Kabbala!«
»Kabbala?« Auch die Medici hatte davon gesprochen, erinnerte sich Madeleine.
»Das ist eine magische Wissenschaft. Sie hilft, den tieferen und verborgenen Zusammenhang von Dingen zu erkennen und zu berechnen und auch mit höheren Wesen Verbindung aufzunehmen«, erklärte er.
Höhere Wesen? Sie fragte sich, was das für ihn war. Ihre Skepsis war zurückgekehrt. Die Zeichen sahen eher aus wie die Beschwörung von dunklem Zauber und Hexenformeln.
»Lasst mich Euch einen Rat geben, Mademoiselle. Ihr solltet immer Eurem ersten Impuls folgen«, sagte Ruggieri
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