Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
lieber gewartet, bis die Truppen aus dem Norden zu ihnen gestoßen wären. Die Schlacht würde für den Admiral ohnehin nicht leicht werden, dachte Vardes, denn die gegnerische Armee würde von Colignys eigenem Onkel, dem katholischen Oberbefehlshaber Connétable Anne de Montmorency, angeführt werden.
»Wir werden von drei Seiten in St. Denis angreifen und uns darauf konzentrieren, die beiden Dörfer St. Ouen und Aubervilliers zu verteidigen«, sagte der Admiral indessen, ohne dass man ihm etwas von seinen Gedanken oder Gefühlen anmerkte. Ausgebreitet auf einem einfachen Holztisch lag eine Karte, die in großem Maßstab die Umgebung zeigte, in der sie sich befanden. Coligny deutete auf die drei Ortschaften. »Unser Vorteil ist unsere Wendigkeit. Die Armee des Königs kann sich aufgrund ihrer Stärke nur langsam und auf freiem Feld vorwärtsbewegen. Daraus werden wir Kapital schlagen. Wir sind nicht nur wendiger, sondern auch schneller – und damit auch gefährlicher. Überraschungsattacken von hier …« Er deutete auf einen Strich, der für einen langen Graben stand, den die Männer gebaut hatten, um aus seinem Schutz heraus angreifen zu können. »Und von hier!« Coligny deutete auf einen weiteren Punkt, der die Mühle von Aubervilliers darstellte. »Und gleichzeitig werden wir mit unserer Kavallerie von dieser Seite hier kommen – schneller Angriff und sofortiger Rückzug, um dann versetzt erneut wieder zuzuschlagen.« Seine Hand fuhr kurz über die Karte, dann drehte er sich zu ihnen herum. »Wir müssen ihre Aufstellung in Unordnung bringen. Sobald die äußeren Reihen sich aufzulösen beginnen, wird bei dieser Truppenstärke das Chaos ausbrechen!«
Er lächelte kalt. »Auch wenn wir gegen zwanzigtausend Mann den Kampf nicht gewinnen können, werden wir sie empfindlich treffen und das wird bei ihrer Übermacht einem Sieg gleichen! Das verspreche ich Euch!«
77
E ine Hand rüttelte sie an der Schulter. »Ihr müsst aufwachen, Mademoiselle!«, sagte eine Stimme zu ihr.
Benommen schlug Madeleine die Augen auf. Die Zofe stand neben ihrem Bett.
»Ihre Majestät wünscht Euch zu sehen! Sofort.«
»Jetzt?« Madeleine blickte verwirrt nach draußen. Die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen, und sie fragte sich, was geschehen war. Schlaftrunken ließ sie sich beim Ankleiden helfen und folgte der Zofe und der Wache durch die Flure.
Man brachte sie in eines der Privatgemächer der Medici. Als sie den Raum betrat, spürte sie augenblicklich, dass etwas nicht stimmte. Lebrun war bei der Königinmutter und auch Ruggieri. Etwas in dem Blick, mit dem die drei sie ansahen, ließ einen Anflug von Panik in ihr hochsteigen. Sie war schlagartig hellwach und versuchte, sich nichts von ihrem Gefühlszustand anmerken zu lassen, während sie höflich in eine Verbeugung sank.
Die Medici wartete, bis die Wache die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Guten Morgen, Madeleine«, sagte sie.
Sie wirkte müde – tiefe Falten zeigten sich auf ihrer Stirn und um die Mundwinkel. Auch Lebruns Schatten unter den Augen wirkten noch ein wenig dunkler als gewöhnlich. Sie hatten nicht geschlafen, ging Madeleine auf, und sie fragte sich erneut, was vorgefallen war.
»Wir möchten, dass du uns bei etwas hilfst!«, kam die Königinmutter ohne Umschweife auf den Anlass ihres morgendlichen Treffens zu sprechen.
Madeleine nickte vorsichtig.
»Du sollst versuchen, etwas für uns zu sehen!«, teilte die Medici ihr mit.
Madeleine schaute sie verwirrt an. »Etwas sehen?«, fragte sie, während sie bemerkte, dass Lebrun, der hinter der Königinmutter stand, sie fixierte.
»Du sollst deine Gabe für uns einsetzen!«, erklärte die Medici. Ihre Stimme hatte einen fordernden Klang angenommen.
Madeleine stockte der Atem. Es war keine Bitte, es war ein Befehl, den die Königinmutter gerade ausgesprochen hatte.
Sie hatte immer geahnt, dass die Medici irgendwann in der einen oder anderen Weise mit dieser Forderung an sie herantreten würde. Seit ihrer Ankunft hier hatte sie sich vor diesem Moment gefürchtet, weil sie nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte. Nun war er gekommen.
»Aber Ihr wisst, dass ich das nicht kann. Jedenfalls nicht auf diese Weise«, erwiderte sie vorsichtig.
Die Lippen der Königinmutter wurden bei ihrer Antwort schmal. Eine ungehaltene Falte zeigte sich um ihre Mundwinkel. »Nicht kannst oder willst?«
»Nein, wenn ich es könnte, ich würde nichts lieber tun, als Euch auf diese Weise zu Diensten zu sein«,
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