Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
unvermittelt.
»Was meint Ihr damit?«
Er sah sie an. Sein Gesicht, das eine tiefe Ruhe ausstrahlte, wirkte seltsam alterslos, fiel ihr auf. »Als Ihr in diesen Raum ge kommen seid, habt Ihr Euch gefürchtet. Doch dann habt Ihr beschlossen, Eure Angst zu bekämpfen, weil Eure Seele gespürt hat, dass Ihr hier vielleicht Antworten bekommen könnt!«
»Woher wisst Ihr das? Könnt Ihr hellsehen?«, entfuhr es ihr.
Er schüttelte seinen Kopf. »Nein, zumindest nicht in der gleichen Weise wie Ihr, aber ich kann eine Menge in den Augen der Menschen lesen.«
Sie schwieg einen Moment lang. »Und werdet Ihr mir auch Antworten geben können?«, fragte sie ihn schließlich.
Er lächelte. »Ich werde Euch helfen, sie zu finden. Alles liegt verborgen in Euch selbst!«, gab er ihr zur Antwort. »Einstweilen werden wir damit anfangen, Euer Horoskop zu berechnen«, erklärte er und griff nach einer Feder. Dann fragte er sie nach ihrem Geburtsort und der genauen Zeit und dem Datum, an dem sie geboren wurde, und bat sie, nachdem er sich beides notiert hatte, am nächsten Tag wiederzukommen.
73
N achdenklich stieg Madeleine wenig später die Treppe hinunter. Unten wartete wie selbstverständlich die Wache auf sie, die sie wieder zu ihrem Gemach zurückbrachte.
Der Magier und Astrologe hatte eine überraschende Ruhe in ihr ausgelöst. Sie war plötzlich gespannt, was das Horoskop, das er erstellte, verraten würde. Vielleicht würde es ihr tatsächlich Antworten geben, wer sie war und welchen tieferen Sinn es haben konnte, dass sie diese Visionen hatte, überlegte sie.
Als sie ihr Gemach erreicht hatte, trat Madeleine wie schon so oft in den letzten Tagen ans Fenster. Königliche Soldaten patrouil lierten im Hof und erinnerten sie wieder an die schrecklichen Kämpfe und Unruhen, die es zurzeit gab. Selten war ihr die Zukunft so ungewiss erschienen. Sie fragte sich, ob sich unter den Hugenotten vor Paris auch Nicolas de Vardes befand.
In diesem Moment riss sie ein Geräusch hinter sich aus ihren Gedanken.
Sie drehte sich herum. Überrascht sah sie, dass neben dem Pfosten ihres Himmelbetts ein junges Mädchen stand. Sie musste sich dahinter versteckt haben, denn Madeleine hatte sie nicht bemerkt, als sie ins Zimmer gekommen war. Obwohl sie diesmal etwas schlichter gekleidet war und ihr glänzendes dunkles Haar offen über die Schulter trug, erkannte Madeleine sie sofort wieder. Es war Margot, die Tochter der Medici. Die Prinzessin musterte sie abschätzend. »Ihr seid es also, um die meine Mutter so ein geheimnisvolles Gewese macht«, sagte sie, und es klang fast so, als würde eine leichte Eifersucht in ihrer Stimme schwingen.
Madeleine fragte sich, warum die Prinzessin zu ihr gekommen war.
»Bildet Euch nicht zu viel darauf ein«, fuhr Margot fort. »Sie benutzt Euch nur, so wie sie uns alle benutzt!«
»Benutzen? Aber Ihr seid ihre Tochter«, entgegnete Madeleine.
Margot hob das Kinn. »Ja, und deshalb bedeute ich ihr auch nicht halb so viel wie meine Brüder. Sie wird mich mit irgendeinem Ehemann vermählen, den sie für ihr politisches Ränkespiel gebrauchen kann«, erwiderte die Prinzessin. Eine unterschwellige Bitterkeit schwang in ihrem Ton.
Ohne Frage hatte sie etwas Faszinierendes, dachte Madeleine. Auf der einen Seite wirkte sie zwar unglaublich verzogen, doch gleichzeitig strahlte sie auch etwas Verletzliches aus, und eine Würde umgab sie, die man vermutlich nicht erlernen konnte. Madeleine erinnerte sich, welch bewundernswerte Haltung sie gezeigt hatte, als ihr Bruder, der König, sie geohrfeigt und in aller Öffentlichkeit gedemütigt hatte.
»Und hat meine Mutter Euch auch schon zu Ruggieri mitgenommen?«, fragte Margot weiter.
Madeleine blickte sie an. »Wieso fragt Ihr mich das?«
Margot zuckte die Achseln. Ihre Hand strich an dem Bettpfosten entlang. »Es wäre nur natürlich, wenn sie es getan hätte. Sie liebt ihren großen Magier. Nur weil er auch Italiener ist, aber ich kann ihn trotzdem nicht ausstehen«, sagte sie trotzig. Sie stemmte herausfordernd und mit arroganter Geste die Hand in ihre schlan ke Hüfte. »Also, wart Ihr bei ihm?«, fragte sie in einer Art, die Madeleine nur zu gut ahnen ließ, wie sie gewöhnlich mit ihren Dienern und Kammerzofen umsprang.
»Kurz«, erwiderte sie.
»Wirklich?« Margot schien nicht ernsthaft damit gerechnet zu haben. Ein verunsicherter Ausdruck zeigte sich auf ihrem Gesicht. Die Prinzessin war einen Schritt auf sie zugekommen. »Wart Ihr es, die in Meaux
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