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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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nahm eine neue Ausgeglichenheit in sich wahr. Seltsamerweise wurde ihr in diesem Zustand jedoch bewusster denn je, wie viel sie an Nicolas de Vardes dachte. Sie hatte Angst um ihn.

76
    V ardes schaute zu dem Admiral, der mit unerschrockener Miene auf dem freien Feld vor seinen Männern stand. Es war nicht das erste Mal, dass er Coligny bei solchen Ansprachen beobachtete, aber er war dennoch immer wieder davon beeindruckt. Die feste Stimme des Admirals sprühte wie seine Gesten vor Vitalität, und seine Augen leuchteten. Es war diese Aura, diese Sicherheit, dass nichts sie würde aufhalten können, die wie ein Funke auf seine Leute übersprang. Die Haltung der Männer schien mit einem Mal ein wenig aufrechter, und er sah ihren Gesichtern die Entschlossenheit an, in der sich nicht nur der Wille, sondern die Gewissheit spiegelte, dass man sie nicht würde besiegen können.
    Die Verhandlungen mit dem König waren so gut wie gescheitert. Alles sah danach aus, dass es zur Schlacht kommen würde, und der Admiral hatte vor der bevorstehenden Lagebesprechung mit seinen Anführern noch einmal zu den Männern sprechen wollen.
    Wie immer war es ihm gelungen, Unsicherheit und Zweifel zu beseitigen und ihnen das Gefühl zurückzugeben, dass sie für eine größere, höhere Sache kämpften. Gott würde sie führen.
    Vardes’ Blick glitt über die Gesichter um sich herum, über den bunt zusammengewürfelten Haufen von Männern, von denen die wenigsten eine Uniform besaßen und deren stärkste Waffe ihre eigene Überzeugung war. Sie alle wussten, dass diese Schlacht für sie alles andere als leicht sein würde. Die Truppen des Königs waren ihnen weit überlegen – sie umfassten mit den Schweizern rund zwanzigtausend Mann. Sie selbst konnten dagegen zurzeit gerade einmal dreitausend Kämpfer aufweisen, denn sie warteten noch immer auf Verstärkung aus dem Norden. Noch dazu waren sie weitaus schlechter bewaffnet. Gerade einmal Schwerter und Pistolen besaßen sie. Die wenigen Lanzen, die sich in ihrem Besitz befanden, hatten sie selbst angefertigt, und sie verfügten über keine einzige Kanone. Dennoch gaben sich Coligny und der Prinz de Condé siegesgewiss – und selbst Vardes vertraute ihnen.
    Als er sich wenig später zu der Lagebesprechung in die Scheune begab, die sie zu ihrem Hauptquartier umgerüstet hatten, erinnerte er sich wieder an seine erste Begegnung mit Coligny. Über sieben Jahre lag sie zurück. Die Narben auf seiner Wange waren damals noch frisch gewesen und hatten geschmerzt. Vardes sah das Gesicht des Admirals noch heute vor sich, den klaren Blick, mit dem ihm dieser in die Augen geschaut hatte, als er ihn schließlich fragte, warum er wirklich konvertieren wollte.
    Vardes hatte geschwiegen. Der Tod seines Bruders Jacques lag zu jener Zeit ein Jahr zurück, und er hatte begriffen, dass es für ihn keinen Weg mehr zurück gab.
    »Ich weiß, was Euch widerfahren ist«, sagte der Admiral schließlich. »Aber nicht der Hass sollte Euch zu Gott führen, sondern allein der Glaube!«
    Vardes hatte nichts geantwortet, sondern war wortlos aufgestanden und gegangen, doch einige Tage später war er wiedergekommen. Diesmal war er aufrecht vor Coligny stehen geblieben.
    »Ihr habt recht mit dem, was Ihr gesagt habt. Und ich werde vermutlich nie so glauben können wie Ihr, Admiral, aber wenn, erscheint mir der Weg des Protestantismus nicht nur der ehrlichere und bessere zu sein, sondern auch der menschlichere zu Gott. Deshalb bin ich bereit, zu konvertieren und … für unsere Sache zu kämpfen!«
    Er rechnete damit, dass Coligny ihn wegschicken würde, aber der Admiral hatte ihn einen Moment lang einfach nur angesehen, dann war ein leichtes Lächeln über sein Gesicht geglitten. »Ihr seid ehrlich – Euch selbst und Eurem Glauben gegenüber, Monsieur de Vardes – das ist ein großer Schritt auf dem Weg zu Gott!«
    Ihr Verhältnis war seitdem immer von gegenseitigem Respekt geprägt gewesen. Noch am Abend, als Vardes zum Protestantismus übergetreten war, hatte ihn der Admiral mit seinem ersten geheimen Auftrag in die deutschen Fürstenstaaten und die Niederlande geschickt.
    Vardes hatte den Schritt, den er damals getan hatte, nie bereut.
    Als er jetzt in die Scheune trat, wanderte sein Blick erneut zu dem Admiral. Er wusste, dass dieser die Schlacht gerne noch weiter hinausgezögert hätte, doch der Prinz de Condé, unter dessen Fahne sie kämpften, drängte zum Angriff. Coligny, vorsichtiger und vorausschauender, hätte

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