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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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sich sah. Sie, die Guise, auf der einen Seite, und der Admiral und seine beiden Brüder auf der anderen – beide Parteien gleichermaßen vom Hass aufeinander erfüllt, während der König im Beisein des Rats das Urteil bestätigte. Es sprach den Admiral de Coligny von jeder Schuld und Mittäterschaft an dem Mord des Herzogs de Guise frei. Anschließend hatte die Medici eine Geste der Versöhnung zwischen den Todfeinden verlangt – zum Wohle Frankreichs. Es erfüllte den Kardinal noch immer mit Stolz, dass sein fünfzehnjähriger Neffe, Henri de Guise, der Sohn seines ermordeten Bruders, sich geweigert hatte, dieser Forderung nachzukommen. Sein jugendliches Alter gestattete ihm ein solch aufrührerisches Verhalten. Er selbst dagegen hatte keine Wahl gehabt, doch als er Coligny die Hand reichen musste, hatte er sich geschworen, nicht eher zu ruhen, bis dessen Leichnam vor seinen Füßen läge.
    »Nie werde ich das der Medici, dieser hergelaufenen florentinischen Krämerstochter, verzeihen!«, sagte Anne d’Este später zu ihm. Sein Bruder war bereits gegangen, doch er hatte seine Schwä gerin gebeten, noch zu bleiben. Sie hatten an einem Tisch am Kamin Platz genommen, und er sah den Hass, der noch immer in ihren Augen glomm. Er wusste, dass sie die Wahrheit sprach. In ihren Adern flossen das Blut und der Stolz französischer Könige – ihre Mutter, Renée de France, war eine Tochter Louis XII. gewesen.
    »Keiner von uns wird das«, sagte er schlicht. Entschlossenheit stand in seinem Gesicht mit der hohen Stirn. Mit seinen einund vierzig Jahren war der Kardinal nicht nur einer der reichsten, sondern auch mächtigsten Kirchenfürsten Europas. Zu seinem Besitz gehörte das Bistum Metz genauso wie die vermögenden Abteien von Cluny und Fécamp. Bereits mit vierzehn Jahren war Lorraine zum Erzbischof von Reims ernannt worden, und mit dreiundzwanzig Jahren hatte man ihn zum Kardinal erhoben. Gerade erst war er als Gesandter von einem Konzil des Vatikans zurückgekommen, und nun beabsichtigte er, sich in erforderlicher Weise um diese Familienangelegenheit zu kümmern, in der es um die Ehre und den Ruf des Hauses Guise ging. Mit kalter Miene nahm er die Karaffe mit dem Wein und schenkte zwei Gläser ein. Im Schein des flackernden Kerzenlichts reichte er seiner Schwägerin eines. »Ich verspreche Euch, Coligny wird sterben, und auch wenn es keine Beweise geben darf, wird jeder wissen, dass mit seinem Tod der Mord Eures Gemahls und unseres Bruders, des Herzogs de Guise, gerächt wurde!«, erklärte er.
    Sie blickte ihn an, und zum ersten Mal an diesem Tag entspannten sich ihre Züge. »Danke«, sagte sie und strahlte mit einem Mal etwas Verletzliches aus. »Ich werde erst wieder Frieden finden können, wenn es ihn nicht mehr gibt!«
    Der Kardinal neigte den Kopf und hob sein Glas wie zur Besieglung eines Abkommens. Der Krieg war noch lange nicht beendet – er hatte gerade erst begonnen.

Éclaron, Januar 1566,
im selben Monat …

8
    K niehoch türmte sich der Schnee in diesem Winter 1566 vor der Tür. Der Anblick des unschuldigen Weiß, das Madeleine noch vor wenigen Wochen in Begeisterung versetzte, hatte in den letzten Tagen etwas Unbarmherziges und Grausames bekommen. Eisblumen zeigten sich am Fenster, und im Haus, das nur noch in der Küche geheizt wurde, weil das Brennholz knapp geworden war, hinterließ der eigene Atem neblige Schwaden in der Luft. Madeleine, die alle drei Unterröcke und die beiden Kleider, die sie besaß, übereinander trug, legte auch im Haus schon lange ihren Umhang nicht mehr ab. Dennoch fror sie.
    Selbst die Alten konnten sich nicht erinnern, jemals eine solche Kälte im Land erlebt zu haben. Das Wasser in den Seen und Flüssen war gefroren, und die meisten Straßen und Wege waren nicht einmal mehr mit dem Pferd passierbar.
    Madeleine riss sich vom Anblick des Schnees los, der ihr doch keine Antwort auf ihre Fragen geben konnte. Sie war achtzehn Jahre alt, und eine schreckliche Leere und Angst erfüllte sie. Was sollte nun werden? Ihre Unterlippe zitterte, und sie presste den Kiefer fest zusammen, als sie sich entschlossen abwandte und den Flur entlang zum Zimmer von Monsieur Legrand lief.
    Der alte Mann saß in einem pelzgefütterten Rock hinter dem Schreibtisch. In seiner Hand hielt er ein Vergrößerungsglas, durch das er mit nachdenklicher Miene ein Schriftstück studierte. Er wirkte zerbrechlich in seinem Stuhl, doch das täuschte, denn die Kälte und der Hunger hatten ihm trotz seines

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