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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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löchrigen Leinenvorhang abgetrennt waren, verließ Madeleine jeder Mut. Das hier sollte von nun an ihr Zuhause sein?
    Schwester Elénore stellte sie der Oberin vor, einer korpulenten Frau mit blassblonden Augenbrauen, die die Aufsicht über die Mädchen führte.
    »Du bist also Madeleine Kolb?«, sagte sie kühl, und die Art, wie sie sie dabei ansah, ließ das junge Mädchen sofort ihre Abneigung spüren.
    »Ja.« Sie nickte und senkte verunsichert den Kopf.
    Die Oberin wies ihr ohne viele Worte ein Bett zu und zeigte ihr eine Truhe, in der sie ihre Sachen verstauen konnte.
    Die anderen Mädchen – ein zusammengewürfelter, grau gekleideter Haufen – schenkten ihr zunächst kaum Beachtung. Als sie sich nach der Messe und dem Abendessen, einer Mahlzeit aus einer wässrigen Gemüsesuppe und etwas Brot, zu Bett begeben mussten und Madeleine sich auf den harten Strohsack legte, spürte sie, wie ihr zum zweiten Mal an diesem Tag die Tränen über die Wangen rannen. Sie dachte an ihre Mutter, an Monsieur Legrand und an alles, was sie zurückgelassen hatte. Nie wieder würde ihr Leben so sein, wie es einmal gewesen war.
    »Es ist nur am Anfang so schwer! Mit der Zeit wird es leichter.« In der Dunkelheit waren die Umrisse eines lockigen Mädchenkopfs neben dem Leinenvorhang aufgetaucht.
    Madeleine wischte sich die Tränen von der Wange. »Bist du schon lange hier?«, fragte sie dann leise.
    »Zwei Jahre! Ich heiße übrigens Louise.«
    »Madeleine!«
    Plötzlich verstummte Louise und legte den Finger auf den Mund. Ihr Kopf verschwand blitzschnell zurück in ihrem Bett. Die Schritte der Nonne, die den Schlafsaal kontrollierte, waren zu hören.

San Lorenzo …

10
    D ie Spuren, die er im Mondlicht in dem feuchten Waldboden entdeckte, ließen keinen Zweifel, dass ihnen jemand gefolgt war. San Lorenzo verfluchte sich, dass er so unvorsichtig gewesen war, dem Treffen mit dem Herzog d’Alava zuzustimmen. Dabei hatten sie einen besonders abgelegenen Ort ausgesucht, einen alten einsam gelegenen Jagdpavillon in den Wäldern von Moulins, in dem sie sich mitten in der Nacht verabredet hatten. Er hatte unterwegs sogar sein Pferd gewechselt, aber der spanische Botschafter war leider weniger aufmerksam gewesen, wie die Hufabdrücke zeigten, die er jetzt auf dem Rückweg fand.
    Er versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren, während er den Weg zwischen den dunklen Bäumen entlangritt, an deren tief herabhängenden Zweigen und Ästen die Feuchtigkeit perlte. Seine Hände spannten sich fester um die Zügel. Würde er jetzt entdeckt werden, wäre alles umsonst. All die mühseligen Jahre, in denen er sich das Vertrauen der Hugenotten errungen hatte und sie ihn im mer wieder auf die Probe gestellt hatten. Sie waren misstrauisch und weitaus vorsichtiger gewesen, als er angenommen hatte. Erst seitdem er im Bürgerkrieg Seite an Seite mit ihnen gegen seine eigenen Glaubensgenossen gekämpft hatte, akzeptierten sie ihn als einen der Ihren, und San Lorenzo war seinen Feinden endlich so nahe gekommen, wie es sein Auftrag erforderte.
    Trotzdem war er vorsichtig geblieben. Die Briefe, in denen er seine Informationen weitergab, waren sorgfältig codiert, und er traf sich nur selten mit dem Herzog d’Alava, der als Einziger in Frankreich seine wahre Identität kannte. Doch in den letzten Monaten hatte sich die politische Lage zugespitzt. Der spanische König, Philipp II., sei äußerst beunruhigt, hatte ihn Alava wissen lassen, und San Lorenzo hatte schließlich einem Treffen mit dem Botschafter zugestimmt. In den nördlichen Besitztümern des Reichs, den spanischen Niederlanden, in denen Philipp in den letzten Jahren mit aller Härte gegen die Anhänger der neuen Konfession vorgegangen war, würde sich ein bedrohlicher Widerstand unter den protestantisch gesinnten Adligen formieren, hatte Alava ihm berichtet.
    Sehr viel mehr hatte er nicht sagen müssen. San Lorenzo be griff, welch gefährliche Bedeutung die Protestanten in Frank reich damit bekamen, deren eigener König zu schwach war, um ihnen Einhalt zu gebieten, und die sich jederzeit mit ihren Glaubensbrüdern in den Niederlanden verbünden konnten.
    Er spürte, dass seine Zeit bald gekommen war. Während er weiterritt, erinnerte er sich plötzlich an sein letztes Gespräch mit dem Herzog, damals in Kastilien, kurz vor seiner Abreise nach Frankreich: Vielleicht werdet Ihr nie mehr tun, als gelegentlich einige Informationen an uns übermitteln. Hoffen wir, dass es dabei bleibt. Wenn sich die

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