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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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Alters nichts anhaben können.
    »Madeleine? Ich wollte auch schon mit dir sprechen!«, sagte er. Das Mitgefühl, das in seiner Stimme schwang, schnürte ihr für einen Moment die Kehle zu. Sie nickte und versuchte sich zu sammeln, um nicht vor ihm in Tränen auszubrechen. Schließlich blickte sie ihn geradeheraus an. »Kann ich bleiben?«, fragte sie.
    Er schaute sie überrascht an.
    »Ich würde die Arbeit von ihr machen und könnte Euch auch in der Apotheke helfen. Bitte!«, fügte sie leise hinzu. Ein flehentlicher Unterton lag in ihrer Stimme.
    Der Apotheker legte das Vergrößerungsglas zur Seite. »Genau darüber wollte ich mit dir reden«, sagte er sanft. Er blickte sie an und seufzte. »Ach, Madeleine, ich würde dir gern anbieten zu bleiben, aber das geht leider nicht.« Er deutete auf das Schrift stück in seinen Händen. »Das hier ist der Letzte Wille deiner Mut ter. Sie hat es ausdrücklich anders festgelegt!«
    Er reichte ihr das Papier.
    Obwohl sich die Buchstaben vor ihren Augen zu Worten verbanden, brauchte Madeleine einige Zeit, bis sie den Inhalt dessen, was dort geschrieben stand, wirklich begriff.
    »Hiermit lege ich, Elisabeth Kolb, geboren dem 3. Juni 1526 zu Zweibrücken, fest, dass meine Tochter Magdalena Kolb im Falle meines Ablebens zu den Zisterzienserinnen von St. Angela kommen soll. Ich empfehle ihr seelisches und körperliches Wohl der Obhut der hochwürdigen Äbtissin, Margarète de Foix …«
    Bewegungslos starrte Madeleine auf die Zeilen. Ins Kloster von St. Angela? Sie wusste, dass ihre Mutter, nachdem sie die Pfalz verlassen hatten, einige Monate mit ihr in dem Konvent Zuflucht gefunden hatte. Sie war auf der Reise nach Frankreich schwer erkrankt, und die Nonnen hatten sich um sie und auch um Madeleine, die damals erst zwei Jahre alt gewesen war, gekümmert. Doch das war mehr als fünfzehn Jahre her!
    »Aber warum will sie, dass ich dorthin komme?«, entfuhr es ihr.
    Der alte Mann spürte, in welchen Aufruhr sie die Nachricht versetzte. »Deine Mutter dachte sicherlich, dass du dort am besten aufgehoben bist«, sagte er. »Sie hat der Äbtissin von St. Angela manchmal geschrieben und war vor einem halben Jahr sogar noch einmal dort. Das hat sie mir erzählt.«
    Madeleine konnte plötzlich nichts mehr gegen die Tränen tun. Es gelang ihr nicht länger, stark zu sein. Dass ihre Mutter einer Lungenentzündung erlegen war, war furchtbar genug. Die Krank heit war schnell und unerwartet gekommen. Das ist nur eine kleine Erkältung , hatte ihre Mutter anfangs gesagt und trotz ihres geschwächten Zustands darauf bestanden, ihre Arbeit weiter zu verrichten. Doch dann hatte sie hohes Fieber bekommen, und kein Medikament des Apothekers hatte ihr mehr helfen können. Madeleine hatte sogar noch einen Arzt geholt, dessen Dienste sie mit der Münze bezahlt hatte, die sie einst von der Medici bekommen hatte. Doch es war zu spät gewesen. Drei Tage später war sie in der Nacht gestorben …
    Noch immer konnte Madeleine das alles nicht fassen. Mit tränenverhangenem Blick starrte sie auf das Testament.
    Sie besaß keine andere Familie als ihre Mutter. Und nun sollte sie auch noch von hier weggehen müssen? Dabei waren das Haus des Apothekers und der kleine Ort Éclaron immer ihr Zuhause gewesen – das einzige, das sie jemals gehabt hatte. Warum nur hatte ihre Mutter in dieser Weise über ihre Zukunft bestimmt?
    Der Apotheker hatte sich mit einem weiteren Seufzer aus seinem Stuhl erhoben und legte ihr behutsam die Hand auf die Schulter. Er ahnte, was in ihr vorging. »Siehst du, Madeleine, deine Mutter hat im Grunde ganz recht. Ich bin ein alter Mann und du ein junges Mädchen. Es würde sich nicht ziemen, dass du alleine unter meinem Dach lebst. Und im Kloster kann man sich sicherlich besser um deine Zukunft kümmern.«
    Madeleine schwieg. Seine Worte vermochten sie nicht zu trösten.

9
    M onsieur Legrand ließ es sich nicht nehmen, sie persönlich nach St. Angela zu bringen. Sobald der erste Schnee geschmolzen war, mietete er zwei Pferde und einen Maulesel, der mit ihren wenigen Habseligkeiten und dem Reiseproviant beladen wurde, und sie machten sich auf den Weg. Obwohl das Kloster nur fünfzig Meilen von Éclaron entfernt war, brauchten sie mehrere Tage, denn die Schmelze hatte die Flüsse und Bäche über die Ufer treten lassen und die Straßen und Wege in sumpfigen Untergrund verwandelt, durch den man nur mühsam vorwärtskam.
    »Du wirst mich einfach ab und zu besuchen kommen, ja?«, sagte

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