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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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er, als sie schließlich den Konvent der Zisterzienserinnen erreichten und er sie ein letztes Mal in seine Arme schloss. Der raue Tonfall seiner Stimme verriet, dass ihm der Abschied nicht weniger schwerfiel als ihr selbst. Sie nickte mit zugeschnürter Kehle. Von der Pforte des Klosters blickte sie seiner alten ge brechlichen Gestalt hinterher. Sie bemühte sich nicht länger, ihre Tränen zurückzuhalten, denn sie wusste, dass sie ihn nie wiedersehen würde.
    Die Nonne, die sie in Empfang genommen hatte, eine schmal lippige Frau in den Dreißigern, die sich Schwester Elénore nannte, griff sie mit sanftem Druck am Arm. »Komm!«
    Sie brachte sie in einen kleinen Raum und hieß sie ihre Kleidung ablegen und stattdessen ein Gewand aus einem groben grauen Stoff anziehen, das man für sie bereitgelegt hatte. Im ers ten Moment wollte Madeleine sich weigern. Ihr eigenes Kleid war bereits an einigen Stellen dünn und fadenscheinig, aber ihre Mutter hatte es ihr einst genäht, und außer ihr hatte es nie jemand getragen.
    Die Nonne, die ihr Zögern bemerkte, schenkte ihr einen ungeduldigen Blick. »Das ist die Kleidung, die alle unsere Zöglinge tragen. Du kannst deine eigenen Sachen natürlich behalten. Wenn du dich umgezogen hast, werde ich dich zur Äbtissin bringen. Sie möchte dich sehen.«
    Bedrückt zog Madeleine schließlich das kratzige Kleid über und faltete ihre eigenen Sachen zu einem kleinen Bündel. Als sie Schwester Elénore wenig später durch den Kreuzgang folgte und die hohen Mauern wahrnahm, die das Kloster mit seiner Kapelle, dem Garten und den Nebengebäuden von allen Seiten umgaben, fühlte sie sich wie in einem Gefängnis.
    Sie betraten einen Seitentrakt und liefen durch einen langen kahlen Steinflur, an dessen Ende die Nonne sie in einen Raum führte. Es schien eine Art Arbeitszimmer zu sein, denn auf der einen Seite befand sich eine Reihe von Regalen, die bis unter die Decke mit in Leder gebundenen Büchern und Schriftrollen gefüllt waren, auf der anderen Seite stand ein kleiner Altar mit einem Kreuz darüber. In der Mitte des Raums saß hinter einem Tisch eine weiß gewandete Gestalt – es war die Äbtissin, Margarète de Foix. Sie blickte dem Mädchen mit einem freundlichen Lächeln entgegen und bedeutete ihm, näher zu treten. »Willkommen in St. Angela!«
    Madeleine sank in einen höflichen Knicks und küsste die Hand, die sie ihr hinhielt.
    »Du erinnerst dich sicherlich nicht mehr, aber wir beide sehen uns nicht zum ersten Mal«, sagte die Äbtissin dann. Sie strahlte etwas Respekteinflößendes aus, doch von ihrer melodischen Stimme ging eine überraschende Wärme aus. »Du warst damals noch sehr klein, als du mit deiner Mutter hier warst!«
    Madeleine nickte – an mehr als an den vagen Geruch der küh len feuchten Steinflure konnte sie sich tatsächlich nicht entsinnen.
    »Deine Mutter war eine besondere Frau. Sie hat immer über einen festen und unerschütterlichen Glauben verfügt«, fuhr die Äbtissin fort, die nicht zu erwarten schien, dass sie etwas sagte. Einen Moment lang ließ sie ihren Blick prüfend auf Madeleine ruhen, als wolle sie ergründen, ob dies bei ihrer Tochter ebenso der Fall sei. »Es wird dir am Anfang vielleicht etwas schwerfallen, dich hier einzuleben. Das Leben bei uns ist sehr schlicht und einfach, aber ich bin sicher, dass du dich hier bald wohlfühlen wirst. Schwester Elénore wird dir alles zeigen.« Sie nickte als Zeichen, dass ihr Gespräch damit beendet sei, und ehe sich Madeleine versah, hatten sie den Raum wieder verlassen, und sie folgte Schwester Elénore den Flur und Kreuzgang zurück zum Haupttrakt.
    Wie sie von der Nonne erfuhr, waren sie fünfzehn Mädchen im Alter zwischen dreizehn und zweiundzwanzig Jahren, die bei den Zisterzienserinnen lebten. Die meisten stammten wie Madeleine aus ärmlichen Verhältnissen, waren Waisen oder hatten Familien, die sich nicht mehr um sie kümmern konnten. »Ihr seid hier aus reiner Barmherzigkeit aufgenommen worden. Vergiss also nie, dass du nicht nur Gott, sondern auch dem Kloster und den Nonnen große Dankbarkeit schuldest«, sagte Schwester Elénore in einem Tonfall, der Madeleine ahnen ließ, welche Strenge von nun an ihr Leben bestimmen würde.
    Die Nonne brachte sie als Erstes zum Schlafsaal. Beim Anblick des karg eingerichteten Raums mit den rohen Steinwänden, in dem sich nichts außer einer langen Bettenreihe mit Strohsäcken befand, die untereinander durch einen groben, an einigen Stellen bereits

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