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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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erkrankt?«, fragte er. Erst im letzten Jahr war die schreckliche Epidemie in Paris ausgebrochen, und viele Tausende in der Hauptstadt waren gestorben.
    »Nein, der König und der Hof haben sich sofort nach Crémieu begeben. Aber ich sage Ihnen, wir werden es noch alle bereuen, dass wir diese Protestanten nicht ein für alle Mal ausgerottet ha ben! Diese Schuld wird Gott uns nicht vergeben«, verkündete Gastine unheilvoll. Madeleine konnte durch den Türbogen erspähen, wie er bei den letzten Worten mahnend den Zeigefinger gen Himmel erhob. Sie wischte nachdenklich weiter. Er sprach aus, was viele dachten: dass der Friede von Amboise, der den Protestanten im begrenzten Rahmen die Ausübung ihrer Religion gestattete, eine unverzeihliche Schwäche des Königs und nichts anderes als ein großer Fehler war. Vor allem hier im Herrschaftsgebiet der Guise-Lorraine sahen das viele so. Keiner von ihnen hatte vergessen, dass der Herzog de Guise erst im letzten Jahr nach gewonnener Schlacht heimtückisch von einem Protestanten ermordet worden war.
    »Nun ja, ich für meine Verhältnisse bin froh, dass endlich wieder Frieden in Frankreich herrscht«, erwiderte der alte Apotheker höflich, der wie immer um ausgleichende Worte bemüht war.
    Gastine schnaubte nur verächtlich. »Frieden? Für welchen Preis und vor allem für wie lange, werter Monsieur Legrand? Um unseren Gott und Glauben zu verraten und nur, damit die Protestanten bei der nächsten Gelegenheit erneut das Schwert gegen uns erheben?« Er nahm die fertige Arznei von Legrand entgegen und schüttelte den Kopf. »Nein, wie hat es Pater Denis in der Messe gesagt: Gott wird uns verdammen, wenn wir zu schwach sind, seinen Feinden Einhalt zu gebieten! « Mit diesen prophetischen Worten entschwand er aus der Apotheke.
    Madeleine konnte hören, wie dem alten Legrand ein lautes Seufzen entschlüpfte, als sich die Ladentür hinter ihm schloss. Sie tauchte den Lappen wieder ins Wasser. Wie die meisten hatte auch sie die Predigt von Pater Denis am Sonntag in der Messe gehört. Es war eine düstere, donnernde Rede gewesen. Die Pest und Hungersnöte, die die Menschen zurzeit überall im Land erleiden müssten, sie seien nur ein Vorbote von Gottes Gericht, das sie alle erwartete. Ein mahnendes Zeichen des Allmächtigen für die Sünde, die sie auf sich luden, weil sie im eigenen Land die Ketzer akzeptierten. Madeleine wrang den Lappen aus. Sie fragte sich plötzlich, ob es wieder Krieg geben würde. Ein ungutes Gefühl bemächtigte sich ihrer. Nur zu genau erinnerte sie sich noch an den Ausbruch der Kämpfe vor zwei Jahren. In der gesamten Gegend waren Soldaten rekrutiert worden. Sogar einige Söldnertruppen aus den deutschen Fürstenstaaten waren hier entlanggekommen und hatten sie alle in Angst und Schrecken versetzt. Ihre Mutter hatte Madeleine tagelang verboten, das Haus zu verlassen, und wenn die Soldaten kamen, hatte sie sich im Schuppen hinter dem Brennholz verstecken müssen. Die Kämpfe und Schlachten selbst hatten sich jedoch vor allem im Gebiet der Loire, um Paris, Rouen und im Süden des Landes abgespielt. Doch auch in der Champagne hatten sie die Folgen des Krieges zu spüren bekommen. Die Lebensmittel waren teuer und für die meisten Menschen kaum noch bezahlbar geworden. Viele mussten hungern, und ihre Mutter war noch immer ständig in Sorge deshalb.
    »So sauber war es hier ja schon lange nicht mehr!«, ertönte in diesem Moment die Stimme von Monsieur Legrand hinter ihr. Der alte Mann, der seinen kurz gestutzten grauen Bart noch nach der Mode des verstorbenen Königs Henri II. trug, war unerwartet auf der Schwelle aufgetaucht.
    »Ich bin gleich fertig«, sagte Madeleine. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen, denn über ihren Gedanken hatte sie fast ihre Arbeit vergessen.
    Der alte Legrand lächelte leicht. »Lass dir Zeit. Du kannst mir danach beim Abmessen helfen!«
    Sie nickte. In den letzten Jahren waren die Augen des Apothekers schlechter geworden, und er bat sie oder ihre Mutter daher gelegentlich, ihm zu helfen. Madeleine ging ihm gerne in dem kleinen Labor zur Hand. Sie konnte etwas lesen und schreiben – ihre Mutter hatte es ihr beigebracht. Die eingravierten Zahlen auf den Gewichten abzulesen, bereitete ihr daher keine Schwie rigkeiten, doch die Aufschriften auf den vielen Tiegeln und Behältern konnte Madeleine nicht verstehen, denn es waren lateinische Bezeichnungen. Etwas Geheimnisvolles ging von diesen unbekannten Namen aus, die nicht nur

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