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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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pflanzliche Mittel bezeichneten, sondern auch tierische und mineralische Substanzen wie Pul ver aus Korallen, Hirschhorn und Schlangenhaut oder seltene Steine und Edelmetalle. Viele dieser Essenzen und Stoffe kamen von weit her. Aus Asien, der Neuen Welt oder Ländern, die Persien oder Türkei hießen und von denen Madeleine nicht einmal gewusst hatte, dass es sie überhaupt gab. Manchmal erzählte der alte Apotheker, der selbst keine Kinder hatte, etwas über die Arzneien, und sie hörte ihm gespannt zu.
    »Opium ist nicht nur der wertvollste Stoff, um Schmerzen zu bekämpfen«, erklärte er heute, als er mit seinen faltigen Fingern einen kleinen Schrank aufschloss und vorsichtig einen Behälter hervorholte. »Es schützt in den richtigen Mengen auch vor Gift, vor allem vor dem einiger Schlangen. Schon die alten Römer wussten das und haben es deshalb genommen!« Er wies Made leine an, auf der Balkenwaage das Zehntel einer Unze abzu messen, und schloss den Behälter, um ihn dann wieder sorgfältig im Schrank zu verschließen. Den Schlüssel verwahrte er stets an einem Bund an seinem Rockschoß.
    Schließlich nahm er mit behutsamen Bewegungen einige weitere Tiegel und Tinkturen aus den Regalen. »Siehst du, der Mensch und alles Leben besteht aus vier Elementen – aus Feuer, Erde, Wind und Wasser«, sprach er weiter. Er wandte sich zu ihr. »Und weißt du, warum jemand krank wird?«
    Madeleine schüttelte interessiert den Kopf. Darüber hatte sie noch nie nachgedacht »Nein. Warum?«
    »Wenn sich diese vier Elemente bei einem Menschen nicht im Gleichgewicht befinden und eines von ihnen zu stark oder zu schwach in den Säften des Körpers vorhanden ist, dann wird man krank!« Er öffnete einen weiteren Tiegel und reichte ihn ihr. »Miss genau den zwanzigsten Teil einer Unze ab!«
    Sie entnahm dem Gefäß, das die Aufschrift Myristicae trug, die geforderte Menge und wog sie. Der Apotheker beobachtete ihre Handgriffe, bevor er das Pulver in einen Becher gab, noch einige Tropfen einer Tinktur hinzufügte und das Ganze mit einem feinen Spachtel zu einer Masse verrührte.
    »Ein Medikament muss dieses Ungleichgewicht bekämpfen, in dem man dem Patienten das Gegenelement zuführt«, fuhr er fort. »Opium in dieser Form hier verarbeitet, ist zum Beispiel wärmend – es hilft, wenn die Krankheit, in diesem Fall der Schmerz, durch zu viel Kälte hervorgerufen wurde.«
    Madeleine hörte ihm fasziniert zu und betrachtete die unscheinbare klebrige Masse in dem Becher, die den Patienten von seinen Schmerzen befreien würde. Schon immer hatten sie diese Dinge interessiert. Auch ihre Mutter verstand viel von Kräutern und Heilpflanzen, doch im Gegensatz zu Legrand sprach sie nicht gerne darüber. Darüber musst du nichts wissen , pflegte sie knapp zu antworten.
    Das Mädchen dachte erneut darüber nach, was Legrand erzählt hatte, und zog die Stirn kraus. »Und was ist, wenn jemand einen Unfall hat, ist dann auch das Gleichgewicht der Elemente gestört?«, fragte sie, denn sie hatte plötzlich den Müllergesellen Guillaume vor Augen, dessen Bein man nach dem Unfall mit dem Mühlrad amputiert hatte. Glücklicherweise hatte er die schreckliche Prozedur gut überstanden. Einen Augenblick lang zog sich bei der Erinnerung an diesen Tag wieder alles in ihr zusammen.
    Legrand nickte. »Ja, eine Verletzung erzeugt meistens zu viel Feuer!«
    »Madeleine?«, war in diesem Augenblick der laute Ruf ihrer Mutter zu vernehmen. »Da bist du ja!«, sagte sie, als sie in der Tür auftauchte. »Ich habe dich schon überall gesucht. Du solltest doch die Regale putzen. Was machst du hier?« Ihr Ton war wie so oft in den letzten Wochen streng – ständig überhäufte ihre Mutter sie mit Arbeit, als wollte sie sie bestrafen, und hatte ihr sogar verboten, sich mit Agnès zu treffen.
    »Ich habe sie gebeten, mir beim Abwiegen zu helfen! Meine Augen sind ja leider nicht mehr die besten«, erklärte Legrand.
    »Entschuldigt, das wusste ich nicht!«, erwiderte Elisabeth Kolb, die sich rechtzeitig daran zu erinnern schien, dass sie vor ihrem Dienstherrn und Brotgeber stand. Dennoch war ihrem Gesichtsausdruck anzumerken, dass es ihr nicht gefiel, dass Madeleine ihm zur Hand ging. »Nun, wenn Ihr ihre Hilfe braucht!« Sie wandte sich zu ihrer Tochter. »Wenn du hier fertig bist, komm in die Küche«, sagte sie und verschwand mit einem knappen Kopfnicken wieder in Richtung des Flurs.
    »Geh nur!«, sagte Legrand leise zu dem Mädchen. »Den Rest schaffe ich

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