Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
nicht, wie ich dir das danken soll, Guillaume.«
Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Gar nicht! … Wir waren alle furchtbar besorgt um dich, nachdem du verschwunden warst!«, sagte er. Sie sahen beide auf, denn ein Diener kam vom anderen Ende des Ganges auf sie zu.
»Verzeihung, Mademoiselle? Monsieur de Vardes lässt fragen, ob es Eure Zeit erlaubt, dass Ihr kurz zu den Ställen kommen könntet.«
Madeleine nickte. »Ja, sicher. Ich komme gleich.«
Guillaume fasste sie kurz am Arm. »Du solltest vielleicht wissen, dass Monsieur de Vardes sehr an dir liegt«, sagte er. »Als du weg warst, da hat er überall nach dir Erkundigungen einziehen und dich suchen lassen.«
Eine leichte Röte überzog ihre Wangen. »Das habe ich nicht gewusst!«, erwiderte sie ehrlich.
Auf dem Weg über den Hof spürte sie, wie erneut Schuldgefühle in ihr hochstiegen.
Als sie die Ställe erreichte, war Nicolas nirgends zu sehen.
»Sucht Ihr Monsieur de Vardes?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Sie gehörte einem der Reitknechte, einem jungen, kräftigen Mann mit strohblonden Haaren. Madeleine erinnerte sich, dass sein Name Olivier war. Er hatte die eine Hand in die Hüfte gestemmt und fixierte sie aus seinen blauen Augen. Eine Spur zu aufdringlich, wie Madeleine fand.
Der Knecht deutete mit seinem verdreckten Daumen zum Stall. »Er ist drinnen bei einem der Pferde, bei dem Rappen!«, sagte Olivier.
»Bei Apollo?«, erkundigte sie sich.
Olivier nickte.
»Danke.« Sie lief mit eiligen Schritten in den Stall. Apollo schnaubte erfreut, als er sie erkannte. Doch von Nicolas war nichts zu sehen. Sie strich dem Rappen über den Hals. Er war mager geworden, stellte sie fest. Dann bemerkte sie voller Schreck die Verletzung an seiner Flanke. Es war eine breite Schorfstelle, die aussah, als wäre er während des Kampfes vom Hieb eines Degens getroffen worden.
Sie hörte Schritte hinter sich.
Der Knecht war ihr hinterhergekommen.
»Monsieur Vardes ist aber gar nicht hier«, sagte sie.
»Nein?«, sagte Olivier. Erst jetzt sah sie, dass er das Stalltor hinter sich geschlossen hatte. Sie begriff, dass etwas nicht stimmte. »Wahrscheinlich ist er noch draußen«, sagte sie und wollte entschlossen an dem Knecht vorbei, doch dieser stellte sich ihr in den Weg. »Was soll das?«
»Monsieur de Vardes wird nicht kommen! Er ist beim Admiral.«
»Lass mich durch!«, fuhr sie ihn an.
»Nein, denn wir beide werden uns jetzt mal unterhalten, meine Hübsche.« Er beugte sich zu ihr. Ein Geruch von altem, abgestandenem Schweiß ging von seinem schmuddeligen Hemd aus, und sie wich angeekelt zurück. Ihr Herz pochte. »Ich bin nicht deine Hübsche, und im Übrigen wüsste ich nicht, worüber wir uns unterhalten sollten. Und jetzt lass mich durch, sonst schreie ich!«, zischte sie wütend.
Er lächelte falsch und entblößte dabei eine Reihe gelblicher Zähne. »Würde ich dir nicht empfehlen«, sagte er.
Sie bekam plötzlich Angst. »Was willst du?«
Er packte sie mit einer brüsken Bewegung grob beim Arm und zog sie zu sich heran. »Stell dich nicht so dumm. Sagt dir das Wort Ava etwas?«
Sie war bleich geworden. Ava , der Name ihrer Großmutter, war das Codewort, das Lebrun bestimmt hatte.
»Du sollst mir die Briefe geben«, verkündete Olivier. Er hatte ihr Handgelenk losgelassen und deutete zu Apollo. »Hinten in der Stallbox von dem Rappen befindet sich an der Stirnseite ein loses Holzbrett, das du zur Seite ziehen kannst. Dahinter wirst du deine Schreiben deponieren.« Er zerrte Madeleine mit sich und zeigte ihr die Stelle. »Das ist weniger auffällig, als wenn du sie mir persönlich gibst, und niemand wird Verdacht schöpfen. Hast du verstanden?«
Sie nickte betäubt. Es schockierte sie, dass jemand wie der Knecht, der sich schon lange im Dienst der Hugenotten befand, zu den Männern des Geheimdienstchefs gehören sollte. Sie fragte sich, wer noch alles zu Lebruns Leuten zählte.
Olivier musterte sie. »Gut! Lebrun erwartet regelmäßig deinen Bericht, aber das weißt du ja!«
Wut ergriff sie plötzlich. »Was ist es – das Geld, oder wirst du erpresst, dass du das hier tust?«, fragte sie ihn mit blitzenden Augen.
Er starrte sie an. Einen Moment lang wirkte er irritiert. Dann lächelte er kalt. »Versuch erst gar nicht, deine Spielchen mit mir zu treiben. Monsieur Lebrun hat mich vor dir gewarnt«, sagte er, bevor er sich abwandte und den Stall verließ. Voller Ohnmacht blickte sie ihm hinterher.
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D ie beiden Männer, die
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