Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
man sie abfällig genannt, und im Gottesdienst hatte der Priester mahnend seinen Finger erhoben und erklärt, dass ihnen für ihre Fleischeslust das ewige Höllenfeuer drohe. Doch in Madeleines Leben war zu viel geschehen, als dass sie diese Sichtweise teilen konnte. Im Gegenteil, nichts in ihrem Leben war ihr jemals so wahr und rein vorgekommen wie das, was sie für diesen Mann empfand. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Gott sie für das, was sie fühlte, verurteilen würde. Trotzdem war ihr klar, dass Nicolas mit der Geheimhaltung auch ihren Ruf schützen und sie genau vor diesem Gerede bewahren wollte.
Obwohl es ihr schwerfiel, ihre Gefühle für sich zu behalten, war Madeleine in gewisser Weise auch froh darüber. Sie wollte auf keinen Fall, dass einer von Lebruns Agenten von ihrem Verhältnis erfuhr. Als Nicolas sie im Morgengrauen verließ, hatte sie eine Angst ergriffen, die größer und gewaltiger war als jemals zuvor. Ihr letztes Gespräch und die Drohungen von Lebrun hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt, und sie fragte sich, was sie nur tun sollte. Voller Bitterkeit erkannte sie, dass es keinen Ausweg aus der Situation gab. Sie würde lügen müssen und in der ständigen Angst vor Entdeckung leben – um auf der einen Seite Lebrun hinzuhalten und die Hugenotten nicht zu verraten und um auf der anderen Seite zu verhindern, dass man hier in Châtillon die Wahrheit erfuhr. Schuldgefühle gegenüber Nicolas quälten sie. In ihrer Verzweiflung überlegte sie, ob sie sich ihm nicht doch anvertrauen sollte, doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Ihre Furcht, dass sie damit alles zwischen ihnen zerstören könnte, war einfach zu groß.
Solange sie nicht wusste, wer die Mittelsmänner von Lebrun waren, konnte sie nichts tun. Ohnmächtig rang sie die Hände. Es war ein gleichermaßen intelligenter wie perfider Schachzug des Geheimdienstchefs gewesen, ihr die Identität dieser Männer nicht mitzuteilen. Bei jedem Diener, jedem Boten und Knecht, der in ihre Richtung blickte, fragte sie sich nun, ob es sich bei diesen um einen Spitzel Lebruns handelte.
Ihre Schuldgefühle gegenüber den Hugenotten wogen doppelt schwer, da man sie in Châtillon voller Wärme und wie ein verlorenes Familienmitglied aufnahm.
Seit ihrer Rückkehr half Madeleine wieder wie selbstverständlich bei der Versorgung der Kranken und Verletzten. Durch den Krieg gab es zahlreiche Verwundete auf dem Schloss, und Madame Maineville war, wie einst Charlotte de Laval, dankbar für ihre Hilfe. Madeleine bereitete Umschläge, wechselte Verbände und versorgte Wunden – bei denen es sich vor allem um Stich- und Schussverletzungen handelte. Die Arbeit lenkte sie ab, und es gelang ihr, den ständigen Wechsel ihrer Gefühle zwischen Glück und Angst ein wenig zu bändigen.
Ihr fiel auf, dass die Atmosphäre in Châtillon trotz des Friedensschlusses angespannt war. Schon bei ihrer Ankunft hatte sie bemerkt, dass das Schloss weit strenger bewacht und kontrolliert wurde als im Sommer – als fürchtete man trotz des Edikts von Longjumeau noch immer einen Übergriff oder Anschlag. Die Gesichter der Männer waren ernst und besorgt.
»Auf dem Papier gibt es zwar einen Friedensvertrag, aber nirgendwo im Land wird er richtig umgesetzt«, erklärte ihr Guillaume, als sie ihn am Nachmittag im Flur des Krankentrakts traf und darauf ansprach. »In Rouen, in der Normandie, hat man noch am Tag der Friedensverkündigung die Hugenotten getötet, und in Toulouse sind die Katholiken nicht einmal davor zurückgeschreckt, den vom König entsandten Verkünder des Edikts zu enthaupten!«
Madeleine blickte ihn bestürzt an. Doch dann erinnerte sie sich, wie man in Paris die Protestanten gejagt hatte. Auch ein Friedensvertrag konnte den Hass zwischen den beiden Parteien nicht zum Erliegen bringen, dachte sie.
»Wirst du denn in die Niederlande zurückkehren?«
Guillaume schüttelte den Kopf. »Nein, dort sieht es noch weit schlimmer aus. Die Armee des spanischen Königs wütet gegen die Aufständischen – es gibt täglich Hunderte von Verhaftungen und Hinrichtungen«, berichtete er mit düsterer Miene und fuhr sich dabei durch seinen roten Haarschopf.
»Das tut mir leid«, sagte Madeleine mitfühlend.
Er nickte. »Es ist gut, dass du wieder hier bist!«, setzte er dann hinzu.
Sie lächelte. »Ohne dich wäre ich das wahrscheinlich nicht«, gab sie zur Antwort. »Wenn du mich nicht aus den Händen dieser beiden Kerle befreit hättest … Ich weiß
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