Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Moments sah sie Guillaumes rußgeschwärztes Gesicht. Leblos lag er auf dem Hof. Flammen schlugen durch das Dach … Sie wurde blass. Ihr Herz raste, und die Panik drohte sie zu überwältigen. Sie nahm plötzlich überdeutlich ihre eigene Furcht wahr vor dem, was gerade mit ihr geschah, doch dann passierte etwas Unerwartetes. Es gelang ihr mit einem Mal, wieder ruhiger zu werden, ihren Atem zu kontrollieren und die Angst und ihre eigene Person von außen, wie losgelöst von sich selbst zu sehen. Sie versuchte nicht länger, sich gegen die Vision zu wehren. Von irgendwo weit her hörte sie Nicolas’ Stimme, die ihren Namen rief. Im selben Augenblick zeigten sich ihr die Bilder so klar und deutlich wie nie zuvor. Sie erkannte, dass der Schuppen explodieren würde, wenn der junge Niederländer an der Tür angekommen sein würde. »Guillaume!« Ihr gellender Schrei hall te über den Hof und ließ den jungen Mann überrascht in seinem Schritt innehalten. Sie rannte, nein, stürzte auf ihn zu und riss ihn mit sich weg.
Da ertönte hinter ihnen ein ohrenbetäubender Knall, und ein berstendes, krachendes Geräusch war zu hören. Madeleine spürte, wie sie mit Guillaume ein Stück durch die Luft geschleudert wurde. Holzteile, Steine und Ruß flogen durch die Luft.
Sie landete unsanft auf dem harten Boden und richtete sich benommen auf. Suchend glitt ihr Blick über den Hof, und sie sah mit unendlicher Erleichterung, dass sich Guillaume ein Stück weiter gerade mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte aufzurichten.
»Madeleine!« Nicolas’ Gesicht war kalkweiß, als er sich zu ihr beugte. Sie blickte ihn an und spürte, wie ihr Bewusstsein wegzugleiten drohte, als würde sich eine schwarze Wand dazwischenschieben, doch dann versuchte sie erneut, ruhig zu atmen. Ihre Hand griff nach dem Anhänger an ihrem Hals, der sich warm anfühlte. Er wird dich schützen! , hörte sie im Kopf die Stimme Ruggieris. Die Welt um sie herum nahm langsam wieder feste Konturen an.
»Geht es?«, fragte Nicolas erneut.
Sie nickte und ließ sich mit zittrigen Knien von ihm aufhelfen. Guillaume kam auf sie zugehumpelt und sah fassungslos zu dem in Flammen stehenden Lagergebäude.
»Mein Gott, wenn du mich nicht weggerissen hättest …«
Menschen kamen aus dem Schloss herausgestürzt. Überall waren plötzlich Schreie und Rufe zu hören. Männer rannten mit Eimern voller Wasser zu dem Feuer und versuchten es zu löschen, während man gleichzeitig die in Panik geratenen Pferde aus den Ställen brachte, um sie von dem Feuer fernzuhalten.
Madeleine merkte, dass Nicolas noch immer den Arm um sie gelegt hatte. Mit finsterer Miene schaute er zu dem Feuer. Voller Entsetzen erkannte sie, dass die beiden Männer, die das Lager bewacht hatten, etwas entfernt leblos mit blutüberströmten Gesichtern auf dem Boden lagen. Sie fröstelte.
Ronsard kam auf sie zugestürzt. »Wie ist das denn passiert?«, fragte er bestürzt. Auch Clément und Colignys Bruder, François de Châtillon, kamen zu ihnen gelaufen.
»Ich weiß es nicht«, sagte Nicolas gepresst und in einem Tonfall, der sie unmerklich zusammenzucken ließ.
»Madeleine hat mir das Leben gerettet. Sie hat mich gerade noch rechtzeitig weggerissen«, erklärte Guillaume. Er drehte sich erneut zu ihr. Rußteilchen lagen auf seinem roten Haarschopf. »Wie hast du nur so schnell reagieren können? Du hast mich ja noch vor der Explosion gewarnt«, sagte er. Bewunderung schwang in seiner Stimme.
Madeleine wünschte, er hätte die letzten Sätze nicht gesagt, denn sie spürte, wie die Männer sie mit einem Mal ansahen. »Das weiß ich nicht. Ich glaube, ich habe einen Lichtschein, etwas wie eine Flamme gesehen!«, erwiderte sie ausweichend.
»Wirklich?« Ronsard fixierte sie. »Aber das Gebäude hat gar keine Fenster.«
Madeleines Kehle schnürte sich plötzlich zu. »Es ging so schnell«, erwiderte sie ausweichend. Als wäre die Situation nicht schon verfahren genug, bemerkte sie auch noch, dass Olivier vor den Ställen stand und zu ihr herüberstarrte.
»Sie hat recht. Ich habe es auch gesehen. Es gab eine gewaltige Stichflamme, die durchs Dach geschlagen ist«, kam ihr Nicolas unerwartet zu Hilfe. Mit kalter Miene erwiderte er den Blick von Ronsard.
»Auf jeden Fall hast du mir das Leben gerettet!«, sagte Guillaume mit einem schiefen Lächeln. »Und dafür bin ich dir mehr als dankbar!«
96
» Es war kein Unfall. Jemand hat den Schuppen absichtlich in die Luft gesprengt«, sagte er.
Der
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