Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
man am Nachmittag aufs Schloss brachte, waren schwer verletzt. Die Schüsse der Musketen hatten dem Jüngeren den Arm und dem Älteren die Hüfte und das Bein zerfetzt. Madeleine konnte ihr Entsetzen nicht verbergen, als sie das viele Blut sah, zwischen dem sich Haut und herausragende Knochenteile zeigten. Das Stöhnen der beiden traf sie bis ins Mark. Man ließ eilig den Chirurgen rufen, doch obwohl man die beiden sofort operierte, konnte man nur noch den Jüngeren retten.
»Das Gewebe und die Knochen des Älteren waren völlig zerstört. Die Hüfte und das Bein, das war einfach zu viel«, erklärte der Chirurg niedergeschlagen, dessen Gewand und Hände rot wie die eines Schlächters waren. Selbst auf seinem Gesicht zeigten sich rote Sprenkel. Müde fuhr er sich mit dem Handrücken über die Stirn.
Die beiden Männer, die sich mit vier anderen unterwegs auf der Reise von Paris hierher befunden hatten, waren Soldaten von Colignys Truppen gewesen. Katholische Ligatruppen hatten sie in einen Hinterhalt gelockt. Ihre Begleiter hatte man getötet. »Man hat ihnen die Kehle durchgeschnitten und sie abgeschlachtet wie Tiere!«, berichtete der Bauer mit bleichem Gesicht, der die beiden Verletzten zufällig im Wald aufgelesen und auf seinem Karren sofort nach Châtillon gebracht hatte.
Nicolas ballte die Faust. Selten hatte Madeleine ihn mit einem so düsteren Ausdruck gesehen. Er hatte alle sechs Männer gut gekannt.
»Dieser Friede zählt nichts!«, sagte er am Abend wutentbrannt zu Coligny. Madeleine blickte niedergeschlagen auf das Essen am Tisch, das die Männer kaum anrührten. Wie im Sommer nahm sie wieder an den abendlichen Diners teil. Der Admiral hatte darauf bestanden, doch die Atmosphäre hatte sich seit damals verändert – und das nicht nur, weil es nun neben Coligny einen leeren Platz gab. Der Stuhl seiner Gemahlin blieb bei jeder Mahlzeit frei, fast so, als könnte Charlotte de Laval doch noch jeden Moment hereinkommen.
»Manchmal scheint es fast so, als wollte man uns zwingen, die Bedingungen des Friedensvertrages nicht zu erfüllen!«, sagte der Prinz de Condé. Sie alle waren besorgt, weil es trotz des Edikts nach wie vor allerorten zu Übergriffen auf Protestanten kam.
Coligny wandte sich mit grimmigem Gesicht zu Condé.
»Es wäre Selbstmord, wenn wir in dieser Situation unsere Möglichkeit zur Verteidigung aufgäben. Und ich bin froh, dass man sich in La Rochelle und anderen Städten ebenfalls weigert, diesem Befehl nachzukommen«, sagte er.
Schweigend hörte Madeleine dem aufgebrachten Wortwechsel zu.
Die Abgabe der Waffen war eine der Bedingungen des Friedensvertrages von Longjumeau, wie sie wusste, doch weder Coligny noch Condé schienen die Absicht zu haben, der geforderten Entwaffnung nun nachzukommen. Im Gegenteil – sie hatte mitbekommen, dass in einem der Nebengebäude neben den Ställen ein zusätzliches Lager eingerichtet worden war, das täglich mit neuen Musketen und Schießpulver aufgestockt wurde.
Auf Nicolas’ Gesicht zeigte sich noch immer ein düsterer Ausdruck. »Diese katholischen Ligatruppen sind eine weitaus größere Gefahr, als wir bisher angenommen haben. Der Krieg hat ihnen nicht nur neuen Zulauf und Unterstützung aus dem Volk eingebracht, sondern sie haben auch begonnen, sich zusammenzuschließen und ihren heimlichen Kampf zu koordinieren! Wenn es ihnen wirklich gelingt, sich im ganzen Land zu vereinen – dann gnade uns Gott!«
Ronsard stellte sein Weinglas ab. »Seien wir ehrlich. Wir haben immer gewusst, dass die Medici und der König diesen Frieden viel leicht wollen, das Volk aber nur zu gerne weiterkämpfen würde!«
Der Prinz de Condé hatte seinen Teller von sich geschoben. »Die traurige Wahrheit ist die, dass die Macht des Königs inzwischen nicht mehr ausreicht, um seinen Willen im eigenen Land durchzusetzen! Die erzkatholische Partei um den Kardinal de Lorraine ist stärker denn je, und die gemäßigten Stimmen, wie die des Kanzlers Michel de l’Hospital, haben mittlerweile kaum noch Einfluss …«
Madeleine blickte auf ihren Teller. Sie dachte daran, was Lebrun und die Medici gesagt hatten, nämlich dass ein Gleichgewicht zwischen Hugenotten und Katholiken unabdingbar für die Zukunft des Landes und die Macht des Königs war. Den Worten des Prinzen und Admirals zufolge stand es mit dieser Balance aber ganz offensichtlich nicht zum Besten. Was, wenn die erzkatholische Fraktion noch weiter an Macht gewann? Würde sich die Königinmutter dann nicht
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