Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
doch zwischen den Parteien entscheiden müssen? Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, welche Gefahr jede Information, die sie an Lebrun weitergab, in dieser Situation für die Hugenotten bedeuten konnte.
Der Gedanke beschäftigte sie auch noch am nächsten Tag, als sie bei der Versorgung der Kranken war und hinunter in den Hof ging, um eine Schüssel mit frischem Wasser aus dem Brunnen zu füllen. Nachdenklich ließ sie den Eimer in den tiefen Schacht hinunter. Sie konnte hören, wie er unten mit einem Klatschen ins Wasser tauchte und zog ihn langsam wieder nach oben.
»Grüß dich!«, ließ sich in diesem Moment eine Stimme neben ihr vernehmen. Madeleines Gesicht nahm einen versteinerten Ausdruck an. Es war Olivier.
Der Knecht, der selbst zwei Eimer in den Händen hielt, war vor ihr stehen geblieben. »Du scheinst etwas vergessen zu haben!«
»Nein, habe ich nicht!«, erwiderte sie kalt und goss das Wasser in die Schüssel.
Olivier lächelte gespielt. »Wie ich höre, war der Prinz de Condé gestern Abend hier. Ich bin sicher, dass es einiges zu erzählen gibt!«, sagte er mit gesenkter Stimme.
»Nein, gibt es nicht«, fuhr sie ihn leise an und griff nach der Schüssel.
Er bemühte sich, sie freundlich anzusehen. Von Weitem wirkten sie wahrscheinlich einfach wie ein Mann und eine junge Frau, die miteinander plauderten. Er ließ den Schöpfeimer in den Brun nenschacht hinab und zog ihn gefüllt wieder nach oben. »Verkauf mich nicht für dumm«, zischte er zwischen den Zähnen. »Du wirst jede Einzelheit dieses Gesprächs aufschreiben, hast du verstanden? Sieh zu, dass dein Brief bis heute Abend fertig ist!«, sagte er, während er seine Eimer füllte.
Es kostete Madeleine ihre gesamte Beherrschung, ihm nicht das Wasser aus der Schüssel ins Gesicht zu schütten. Sie wollte ihm wutentbrannt an den Kopf schleudern, dass er sich gefälligst um seine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte, doch dann erkannte sie, dass Nicolas von der anderen Seite des Hofes auf sie zukam.
Olivier bemerkte es ebenfalls. »Na dann, wenn ich dir wirklich nicht helfen kann«, sagte er betont laut. Er griff nach seinen Eimern und neigte mit einem Lächeln den Kopf. Madeleine rang um Fassung. Mit zusammengepressten Lippen nickte sie ihm knapp zu.
»Geht es dir gut?«, fragte Nicolas, der neben ihr stehen geblieben war.
Sie nickte stumm. Er hatte sie am Arm gefasst. Die Berührung, in der etwas Fürsorgliches und Sanftes zugleich lag, ließ sie unwillkürlich an die letzten beiden Nächte denken. Es erschien ihr seltsam unwirklich, dass sie tatsächlich seine Geliebte geworden war. Nicolas lächelte leicht, als würde er ihre Gedanken erraten.
»Was wollte der Knecht von dir?«, fragte er dann.
»Er hat mir nur erzählt, dass es Apollo besser geht«, erwiderte sie.
»Wirklich? … Komm, gib mir das«, sagte er und nahm ihr die Schüssel ab, als sie zusammen über den Hof gingen.
Sie spürte seinen prüfenden Blick auf sich, und ihr wurde erneut bewusst, wie viel er ihr bedeutete. Vielleicht beging sie einen Fehler, dass sie sich ihm nicht anvertraute. Doch sie wusste einfach nicht, wie und wo sie anfangen sollte, ihm alles zu erklären. Hinzu kam, dass er ihr selbst seit jenem Abend vor zwei Tagen, an dem er in ihrem Gemach aufgetaucht war und sie sich voller Leidenschaft geliebt hatten, keine einzige Frage mehr gestellt hatte – als wartete er darauf, dass sie von alleine beginnen würde, alles zu erzählen.
»Geht es dir wirklich gut?«, fragte er.
Madeleine nickte. »Ja, ich denke noch immer über das Gespräch von gestern nach«, antwortete sie. Sie blickte ihn an. »Meinst du, dass der Krieg erneut ausbrechen wird?«, fragte sie und nahm dabei aus den Augenwinkeln Guillaumes Gestalt wahr, die auf das Lagergebäude mit den Waffen zuging. Zwei Wachen standen davor.
Nicolas schwieg. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich ehrlich. »Aber es erscheint mir wahrscheinlicher, als dass es jemals wirklich zum Frieden kommt.«
»Du meinst, es wird nie ein Ende geben?«, fragte sie, als sie unerwartet einen lauten Knall hörte – wie bei einem Donnerschlag oder einer Detonation. Sie zuckte zusammen.
Nicolas sah sie verwundert an. »Was hast du?«
Doch sie antwortete ihm nicht, sondern drehte sich zu den Ställen herum, deren Umrisse ihr unerwartet scharf vor Augen standen. Dann hörte sie erneut den Knall – es war das Geräusch einer Explosion. Eine Gestalt wurde durch die Luft geschleudert. Für den Bruchteil eines
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