Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
sich zu ihr beugte und sie erneut voller Leidenschaft küsste. Einen kurzen, kaum wahrnehmbaren Augenblick hielt er plötzlich inne, und etwas in seinen Augen verriet ihr durch sein Begehren hindurch, dass er in all den Monaten die gleiche Sehnsucht und den gleichen Schmerz empfunden hatte wie sie. Dann glitt sein Mund von ihrem Schlüsselbein zu der zarten Haut ihres Dekolletés und weiter hinunter zu ihrem Bauch, während seine Hände fordernd über die Innenseite ihrer Oberschenkel strichen. Sie stöhnte auf und bog sich ihm voller Lust entgegen. Ein brennendes Verlangen riss sie mit sich. Nichts mehr schien es zu geben außer ihm und ihr – und es kam ihr vor, als würden ihre Körper endlich den Weg zueinanderfinden, der ihnen durch Worte versagt war.
93
A ls sie aufwachte, graute draußen der Morgen. Nicolas saß mit nacktem Oberkörper neben ihr auf der Bettkante und schaute sie an. Erstaunt stellte sie fest, dass er bis auf sein Hemd bereits wieder angezogen war.
Sein Blick war warm und zärtlich, und ein Glücksgefühl durchströmte sie. Seine Finger spielten mit einer Strähne ihres Haars und strichen dann über ihren Hals und verweilten dort. »Diese Kette, du trägst sie immer, nicht wahr?«
Sie griff unwillkürlich nach dem Anhänger, der ihr so viel bedeutete, und nickte. »Ja, sie hat einmal meiner Mutter gehört.«
»Sie passt zu dir«, sagte er.
Das Betttuch war verrutscht, und seine Augen wanderten weiter über ihren nackten Körper. Noch immer lag Verlangen darin. Sie lächelte leicht. Trotz ihrer Unerfahrenheit hatte sie keine Verlegenheit in seinen Armen empfunden. Eine Selbstverständlichkeit hatte in dieser Nacht gelegen, als hätte es nur so und nicht anders sein können. Mehrmals hatten sie sich geliebt – wie ausgehungert und von Sinnen – und mit einer derartigen Leidenschaft, als würde es kein Morgen geben.
Doch das gab es. Madeleine merkte, wie sie die Wirklichkeit jetzt wieder einholte. Nie zuvor hatte sie sich einem Menschen so nah gefühlt wie Nicolas. Sie liebte ihn – schon lange wusste sie das, und sie empfand es als schrecklich, ihn so belügen zu müssen. Ihre Augen schweiften von der Narbe auf seiner Wange zu der Kleidung, die er übergezogen hatte.
»Du musst schon gehen?«, fragte sie.
»Ja«, sagte er mit einem bedauernden Blick. Er strich mit dem Finger sanft die Linie ihrer Taille bis zu ihrer Hüfte nach. »Ungern, aber ich fürchte, der Admiral wird mich aufknüpfen lassen, wenn ich am Morgen einfach so aus deinem Gemach spaziere«, erklärte er mit einem jungenhaften Grinsen.
Sie lächelte, ohne dass es ihr gelang, ihre Enttäuschung zu verbergen.
Er beugte sich zu ihr. »Keine Angst, meine Schöne, wir setzen das fort«, sagte er leise mit rauer Stimme, bevor er sie küsste und aufstand.
Madeleine beobachtete ihn, wie er nach seinem Hemd griff. Einen Moment suchte sie mit den Augen nach ihren eigenen Sachen, die achtlos auf einem Schemel und dem Boden gelandet waren. Sie erhob sich und griff danach.
Als sie sich wieder umdrehte, sah Nicolas sie an. Alle Unbeschwertheit war aus seinem Gesicht gewichen, es hatte etwas beängstigend Finsteres bekommen.
Ihr Rücken. Eine jähe Angst, dass er sie deshalb auf einmal doch abstoßend finden könnte, überkam sie. Wie erstarrt hielt sie in ihrer Bewegung inne.
Er trat zu ihr und zog sie an sich. Seine Finger strichen sanft über die Narben. Dann legte er seine Hand gegen ihre Wange und schaute sie an. »Wer immer dir das angetan hat, ich werde ihn töten!«, sagte er. Die Kälte in seiner Stimme ließ sie schaudern.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Nicolas, das, was geschehen ist – ich will ihm nicht die Kraft geben, dadurch in meinem Leben zu bleiben und irgendeine Bedeutung zu bekommen. Das wäre schlimmer als jede Narbe, die ich davongetragen habe«, erwiderte sie leise.
Ein überraschter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Dann zog er sie an sich und küsste sie.
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S ie waren übereingekommen, niemandem etwas über das, was zwischen ihnen geschehen war, zu erzählen. Auch wenn der Admiral Nicolas sicherlich nicht am nächsten Baum aufgeknüpft hätte, Colignys strenge Moral hätte ein solches Verhältnis auf seinem Anwesen niemals gestattet – zumal Madeleine seit ihrer Rückkehr unter seinem Schutz stand. Es gelang ihr selbst nicht, etwas Unrechtes oder Sündiges in dieser Nacht zu sehen. Dabei erinnerte sie sich nur zu gut, was man früher im Dorf über solche Frauen gesagt hatte. Dirnen hatte
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