Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Admiral blickte Nicolas de Vardes verwundert an. »Wie kommt Ihr darauf?« Die beiden Männer befanden sich allein in Colignys Arbeitskabinett.
»Ich habe im hinteren Teil, dort, wo das Gebäude nicht völlig abgebrannt ist, die Reste eines Reisigbündels gefunden – und die lange Schnur einer Lunte, die anscheinend nicht gezündet hat«, erklärte er.
»Seid Ihr Euch im Klaren, was Ihr damit behauptet?«
»Ja!« Nicolas, der es abgelehnt hatte, sich zu setzen, hatte die Hand in die Hüfte gestemmt. »Ich bin mir dessen sogar schon sehr lange bewusst. Es gibt einen Verräter in unseren eigenen Reihen, und zwar nicht einen dieser unbedeutenden kleinen Spione, die man ständig bei uns einzuschleusen versucht, sondern jemanden, der zu unserem engsten Kreis gehört!«
Der Admiral hatte sich mit ernster Miene von seinem Stuhl erhoben. Er trat mit einem Seufzen ans Fenster. »Ronsard hat diesen Verdacht auch schon geäußert.«
Nicolas nickte. »Ja, denn es gibt zu viele Anzeichen dafür. »Damals der Anschlag auf Euch, und dann sind immer wieder die Stellungen und Reiserouten unserer Männer verraten worden – und schließlich unser so misslich fehlgeschlagener Versuch in Montceaux, den König in unsere Gewalt zu bringen. Seit diesem Tag weiß ich, dass es jemanden gibt, der gezielt Informationen von uns weitergibt, um uns zu schwächen und anzugreifen«, führte Nicolas grimmig aus.
Coligny schaute ihn mit wachen Augen an. »Wenn das der Wahrheit entspricht, es wäre verheerend. Habt Ihr einen Verdacht?«
Nicolas schüttelte den Kopf. »Nein, jedenfalls keinen, den ich beweisen könnte, und ich denke, wir sollten es vorerst auch vermeiden, darüber mit jemandem zu sprechen. Solange wir nicht wissen, wer der Verräter ist, könnten wir ihn damit unabsichtlich warnen«, fügte er hinzu.
Coligny strich sich besorgt über den Kopf. »Ihr habt recht«, sagte er. »Es steht nicht gut für uns.«
Nicolas konnte ihm leider nicht widersprechen.
Der Admiral hatte sich von seinem Stuhl erhoben, und die beiden Männer machten sich auf den Weg zum Ratssaal, in dem die anderen bereits auf sie warteten. »Wie ich hörte, hat Madeleine den jungen Guillaume gerade noch rechtzeitig gewarnt«, sagte Coligny, als sie den langen Flur entlanggingen. »Erstaunlich, das ist schon das zweite Mal, dass sie zur Lebensretterin wird.«
»Ja«, bestätigte Nicolas knapp.
Coligny warf ihm einen durchdringenden Blick zu.
»Wie lange kennen wir uns schon, Monsieur de Vardes?«, fragte er.
»Etwas mehr als sieben Jahre, Admiral«, erwiderte Nicolas.
Coligny nickte. »Genau, eine gleichermaßen kurze wie lange Zeit, doch ich kenne Euch besser als die meisten hier. Zumindest gut genug, um zu sehen, dass Euch Mademoiselle Kolb nicht gleichgültig ist!« Die Worte waren wie beiläufig aus seinem Mund gekommen, verfehlten aber ihre Wirkung nicht.
Nicolas war abrupt stehen geblieben. »Dürfte ich fragen, worauf Ihr mit dieser Feststellung hinauswollt, Admiral?«, fragte er kühl.
Coligny hielt kurz inne. »Ich möchte Euch lediglich den Rat geben, Euch gut zu überlegen, was Ihr tut«, erwiderte er.
97
M adeleine hatte sich gewaschen und ein frisches Kleid angezogen. Mit Ausnahme einiger Schürfwunden und blauer Flecken war ihr glücklicherweise nichts weiter zugestoßen. Grübelnd nag te sie an ihrer Unterlippe. Sie war verwirrt – von der Vision, die so vollkommen anders gewesen war als jemals zuvor, und noch mehr von der Tatsache, dass Nicolas ihr zu Hilfe gekommen war. Warum hatte er behauptet, dass sie recht hatte und er ebenfalls eine Flamme gesehen hätte? Er hatte sie vor Ronsard und den anderen in Schutz genommen. Aber weshalb? Mit Sicherheit wusste er, dass sie nicht die Wahrheit gesagt hatte, denn er hatte schließlich genau neben ihr gestanden, als sie auf Guillaume zugestürzt war. Sie erinnerte sich wieder an den Tag vor ihrer Entführung, im letzten Sommer, als sie beschlossen hatte, ihm alles über ihre Gabe zu erzählen. Seit ihrer Rückkehr hatten sie beide nie über diesen Tag gesprochen. Ich will dir nur helfen, Madeleine , hatte er damals gesagt. Sie griff nach ihrem Umhang. Sie musste mit ihm sprechen – und ihm die Wahrheit sagen. Schon längst hätte sie das tun sollen.
Im Schloss war es still geworden. Am frühen Abend hatte der Admiral alle zu einer Andacht zusammenkommen lassen. Der Pastor hatte eine Predigt gehalten und einige Stellen aus der Bibel gelesen, bevor man gemeinsam mehrere Psalmen gesungen und
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