Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
stimmt. Die ganze Art, wie du dich verhalten hast – dein blasses Gesicht, das Entsetzen, das plötzlich in deinen Augen aufflammte … Später, als ich mehr Abstand zu den Ereignissen hatte, habe ich diese Vermutung jedoch wieder verworfen. Es schien mir einfach zu unglaubwürdig … Bis heute Nachmittag!«, schloss er und legte den Arm um ihre Taille.
»Glaub mir, ich habe selbst lange Zeit gehofft, dass ich mir das alles nur einbilde!«, erwiderte sie mit leichter Bitterkeit. »Diese Visionen haben alles in meinem Leben verändert – sie lassen mich in ständiger Angst und Gefahr leben. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, dass man denken könnte, ich wäre verrückt oder ich wäre vom Teufel besessen, eine Hexe …« Ein dunkler Ausdruck trat auf ihr Gesicht, als sie sich an das Schicksal ihrer Großmutter erinnerte. Sie versuchte, den Gedanken abzuschütteln. »Deshalb habe ich dir nie etwas erzählt. Ich hatte Angst, wie du reagieren könntest.« Sie brach ab und schaute ihn an. »Heute Nachmittag hast du mich vor Ronsard in Schutz genommen!«
Er nickte. »Ich habe gespürt, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, und hielt es für besser, wenn man dir nicht zu viele Fragen stellt«, erklärte Nicolas. Er strich ihr durchs Haar und wirkte plötzlich besorgt. »Es stimmt, dass es zu gefährlich wäre, wenn jemand von deiner Gabe erfahren würde. Vor allem in diesen Zeiten …«, sagte er.
Madeleine zögerte. Sie musste ihm alles erzählen, dachte sie – was wirklich geschehen war, nachdem sie entführt worden war. »Nicolas, ich …«
»Nein, lass mich dir etwas sagen, Madeleine. Es ist wichtig. Ich wollte schon länger mit dir darüber sprechen«, unterbrach er sie. »Durch den Krieg haben sich die Fronten verhärtet. Die Lager sind auf beiden Seiten extremer geworden, weil es kaum noch gemäßigte Stimmen gibt. Im letzten Sommer war es nicht entscheidend, dass du Katholikin bist, aber jetzt …« Er blickte sie an. »Du solltest dir überlegen, ob es nicht besser wäre zu konvertieren!«
Sie wich verwirrt ein Stück vor ihm zurück. »Ich soll Protestantin werden?« Sein Arm lag noch immer um ihre Taille, doch er fühlte sich plötzlich schwer an.
»Ja!«
Sie sah ihn sprachlos an. »Ist es wegen uns?«, fragte sie dann leise.
»Nein, Madeleine!« Er lächelte. »Mir ist es völlig gleichgültig, ob du Katholikin oder Protestantin bist!«, sagte er mit einem Kopfschütteln. »Es geht um dich. Wenn du wieder eine Vision haben solltest, wenn doch jemand etwas merkt … Es wäre leichter, wenn du unserem Glauben angehören würdest. Und nicht nur deshalb.« Ein angespannter Ausdruck zeigte sich mit einem Mal auf seinem Gesicht. »Dieser Krieg zwischen uns und den Katholiken ist noch lange nicht beendet. Der Friedensvertrag ist nicht mehr als eine kurze Atempause. Überall schließen sich die katholischen Ligen zusammen.« Er brach ab, und einen Moment schien es ihr, als würde er nach den richtigen Worten suchen. Dann griff er sie eindringlich mit beiden Händen bei den Schul tern. »Du darfst mit niemandem darüber reden, aber die Explosion heute … das war kein Unfall, Madeleine. Und es ist nicht das erste Mal, dass man einen Anschlag auf uns ausübt. Schon seit geraumer Zeit gibt es solche Vorkommnisse und immer wieder Übergriffe. Ich weiß, dass es einen Verräter in unseren eigenen Reihen gibt. Der letzte Krieg – er wäre vermutlich nie ausgebro chen, wenn jemand nicht unsere Pläne verraten hätte«, erklärte er.
Madeleine erstarrte, als sie seine Worte vernahm.
»Es muss jemand sein, der zu unserem engsten Führungskreis gehört. Er geht ungeheuer geschickt vor.« Nicolas schien ihre Reaktion nicht bemerkt zu haben. »Aber wenn das alles erst bekannt wird, verstehst du, in welche Gefahr dich das als einzige Katholikin hier bringen könnte?«
Madeleine versuchte verwirrt, Nicolas’ Worten zu folgen. Es gab einen Verräter? Von wem sprach er? Meinte er etwa einen der Agenten von Lebrun? Aber das konnte nicht sein, der Geheimdienstchef hatte ihr selbst erzählt, dass es keinem seiner Männer gelungen war, bis in den Kreis von Coligny vorzudringen, fiel ihr ein. Gedanken rasten durch ihren Kopf. Was bedeutete das? Sie spürte, dass Nicolas sie ansah. Erst dann dachte sie darüber nach, was er noch gesagt hatte.
»Ich weiß nicht, ob ich das kann – meinem Glauben abschwören!«, sagte sie.
Der Druck seiner Hände verstärkte sich. »Madeleine, wir glauben an denselben Gott!«,
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