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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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der Toten gedacht hatte. Nicht zum ersten Mal war Madeleine seit ihrer Rückkehr aufgefallen, dass sich die Stimmung dabei verändert hatte. Eine andere Inbrunst war auf den Gesichtern zu erkennen, als hätte der Krieg die Menschen in ihrem Glauben und ihrem Zusammenhalt auf neue Weise gestärkt.
    Nachdenklich lief sie den langen Gang entlang und durchquerte die Halle. Nicolas’ Gemach befand sich im Westflügel, wo sich auch die Privaträume des Admirals befanden, wie sie wusste. Sie ging auf die Wachen zu, die auf der Schwelle zu dem breiten Flur standen und ihr einen überraschten Blick zuwarfen.
    »Könntet Ihr Monsieur de Vardes ausrichten, dass ich dringend mit ihm sprechen müsste?«, bat sie.
    »Er ist vorhin noch einmal nach draußen gegangen. Ihr werdet ihn wahrscheinlich oben auf dem Wehrturm finden«, erwiderte die Wache.
    Madeleine nickte. »Danke!« Sie drehte sich zögernd um und ging zurück durch die Halle, um nach draußen zu treten. Ihre Hände waren feucht geworden. Der Turm war noch immer so eng mit ihrer Entführung verbunden, dass sie es bisher vermieden hatte, auch nur in seine Nähe zu kommen. Sie atmete tief durch. Es war bereits dunkel geworden. Nur das Licht des Halbmonds durchbrach den schwarzen Himmel. Madeleine lief über den Hof, in dem noch immer der Geruch des Schießpulvers in der Luft lag. Sie grüßte eine andere Wache und trat auf den mittelalterlichen Rundbau aus hellem Sandstein zu. Entschlossen stieg sie die Stufen hoch.
    Er lehnte an den Zinnen und starrte in die Ferne. Einen Augen blick blieb sie bewegungslos auf dem Absatz stehen und betrachtete seine große Gestalt, die in sich selbst versunkene Haltung. Seine Narbe glänzte silbrig in der Dunkelheit. Plötzlich fühlte sie sich schmerzhaft an den Abend erinnert, als sie voller Erwartung und Freude hier hochgekommen war. Sie wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen. Wie anders wäre alles gekommen, wäre er damals früher erschienen …
    Er hatte ihre Schritte gehört und sich zu ihr gedreht. Selbst in der Dunkelheit konnte sie den überraschten Ausdruck in seinen Augen erkennen. Sie trat zu ihm.
    Nicolas wandte sein Gesicht erneut in die Ferne – in die schwarze Weite, über der nur die Lichtpunkte einzelner Sterne funkelten. »Ich bin immer gerne hier heraufgekommen. An diesem Platz ist eine so besondere Ruhe. Als würde alles hier für einen Moment zum Stillstand kommen«, erzählte er. »Nachdem du verschwunden warst, bin ich nur noch selten hier gewesen. Als ich dein Schultertuch fand – ich habe mir zu viele Vorwürfe gemacht …«
    Ein kühler Wind strich über ihr Gesicht. Sie hob entschlossen das Kinn.
    »Ich kann es sehen, Nicolas!«, sagte sie.
    Er drehte sich zu ihr. »Sehen?« Ungläubigkeit schwang in seiner Stimme.
    »Ja! Bevor es geschieht.« Sie begegnete ihm mit festem Blick. »Es ist so, als wenn mir die Zukunft für kurze Zeit ihr Gesicht enthüllt. Damals bei dem Anschlag im Wirtshaus war es so und auch später im Wald mit dem Bogenschützen – und heute habe ich vorher die Explosion gesehen. Guillaume wäre getötet worden.«
    Er sagte nichts, und sie fürchtete schon, er könnte sie für verrückt halten.
    »Du willst mir sagen, du hast all das vorher genau gewusst?«, fragte er schließlich. Er wirkte weder besonders fassungslos noch ungläubig, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, sondern eher neugierig.
    »Ja!«
    Er musterte sie.
    »Ist es dir vor diesen Malen schon einmal passiert?«
    Sie nickte. »Zweimal. Das erste Mal, als ich sechzehn war, und später ist es noch einmal im Kloster geschehen. Ich habe damals nie mit jemandem darüber gesprochen …« Sie verstummte, weil die Erinnerung an die Einsamkeit und Furcht danach plötzlich wieder lebendig wurde. Sie hielt kurz inne, doch dann sprach sie weiter. »Diese Visionen, sie kommen willkürlich zu mir, ohne dass ich sie steuern kann. Deshalb habe ich solche Angst vor ihnen.«
    Er hatte sich gegen eine der Zinnen gelehnt. Zu ihrem Erstaunen umspielte ein amüsiertes Lächeln seine Lippen. »Du kannst tatsächlich hellsehen!« Er schüttelte den Kopf und blickte sie an. »Gewöhnlich würde ich jeden, der mir das erzählt, für verrückt erklären. Ich glaube nicht einmal an astrologische Prophezeiungen! Aber ich habe dich gesehen«, sagte er dann voller Ernst. »Bei dem Anschlag ist es mir nicht sofort aufgefallen, aber als du mich dann im Wald vor dem Bogenschützen gerettet hast, habe ich zu ahnen begonnen, dass etwas nicht

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