Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
sagte er eindringlich.
Sie schwieg. Dieses ganze Gespräch verlief völlig anders, als sie es beabsichtigt hatte. Panik stieg in ihr hoch. Sie hatte ihm die Wahrheit sagen wollen – über Lebrun und die Medici –, aber wie konnte sie das jetzt noch tun? Sollte sie ihm nun, da sie wusste, dass es einen Verräter gab, vielleicht sagen, dass man auch sie nur hierhergeschickt hatte, um die Hugenotten zu bespitzeln? Sie las in seinem Gesicht den unterdrückten Zorn über den Verrat – und bekam Angst. Niemals würde er ihr glauben, dass sie nichts Schlechtes im Sinn gehabt hatte. Tiefe Verzweiflung erfasste sie. Sie konnte es ihm nicht sagen, nicht jetzt.
»Überleg es dir, Madeleine!«, sagte Nicolas, der ihre Reaktion missverstand. »Auch wenn dir der Gedanke schwerfällt! Du wirst ohnehin nicht zu deinem alten Leben zurückkehren können …« Er strich ihr durchs Haar und küsste sie sanft. »Du gehörst jetzt zu uns!«
Madeleine blickte ihn an – und ihr wurde bewusst, dass er recht hatte. Wenn es überhaupt einen Platz gab, an den sie hingehörte, dann war er hier. Sie schlang die Arme um ihn und war dankbar, dass die aufkeimende Leidenschaft ihre Verzweiflung und ihre Schuldgefühle erstickte.
98
D ie Gestalt des Stallknechts entfernte sich mit den beiden Pferden über den Hof. Mit angehaltenem Atem wartete Madeleine hinter der Ecke der Wirtschaftsgebäude und beobachtete, wie er langsam in Richtung der Koppeln verschwand.
Sie verzog das Gesicht. Sie hatte nicht die geringste Lust, Olivier zu begegnen. In den letzten Tagen hatte sie sich erfolgreich bemüht, ihm aus dem Weg zu gehen, denn sie hatte Lebrun noch immer keinen Bericht geschrieben. Dabei wusste sie, dass sie den Geheimdienstchef nicht ewig würde hinhalten können. Sie unterdrückte ein Seufzen. Die Unlösbarkeit ihrer Situation drohte sie in manchen Augenblicken in den Wahnsinn zu treiben.
»Versteckst du dich?« Sie fuhr zusammen. Ronsard war unerwartet neben ihr aufgetaucht und lächelte breit. Sie schaute ihn überrascht an, da sie irrtümlicherweise angenommen hatte, dass er zusammen mit Nicolas unterwegs war, der bereits am frühen Morgen aufgebrochen war, um sich einige Meilen entfernt mit einigen anderen Offizieren ihrer Truppen zu treffen.
»Ich? Aber nein!«, behauptete sie.
Er zog kaum wahrnehmbar die dunklen Brauen hoch. Die Feder auf seinem Hut wippte leicht, als er den Kopf in Richtung des Stallknechts wandte, der sich mit den Pferden am anderen Ende des Hofs gerade anschickte, sich aus ihrem Blickfeld zu entfernen. »Stellt er dir etwa nach?«, fragte er noch immer lächelnd.
»Unsinn!«
»Nein? Nun, du scheinst dich großer Beliebtheit zu erfreuen. Nicolas zum Beispiel hat dich gestern geradezu heroisch in Schutz genommen«, meinte Ronsard, während sie zusammen zum Schloss gingen. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du verzeihst mir doch meine Nachfrage, wie du Guillaume warnen konntest, oder? Es war nicht so gemeint. Wir sind zurzeit alle etwas nervös und misstrauisch. In den letzten Wochen und Monaten geschieht einfach zu viel, das nicht geschehen dürfte!«, erklärte er mit unerwartetem Ernst.
Sie nickte. »Natürlich!«
Ronsard musterte sie. »Erlaubst du mir eine Frage? Was ist da eigentlich zwischen dir und Nicolas?«
Sie blickte ihn überrascht an – und zögerte einen Augenblick zu lang mit einer Antwort.
Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Dann täusche ich mich also nicht? Was findet eine junge Frau wie du bloß an ihm?«, fragte er. »Du bist jung und hübsch – ich muss sogar zugeben, dass du dich sehr zu deinem Vorteil verändert hast – und verschmähst einen Mann wie mich für jemanden wie ihn?« Er sah sie spöttisch an.
Es war zu offensichtlich, dass seine Bemerkung nicht ernst gemeint war. »Mir war nicht bewusst, dass Ihr Interesse gezeigt hättet!«, erwiderte sie deshalb knapp.
»Nein?« Er war selbstsicher vor ihr stehen geblieben. »Wie bedauerlich. Vielleicht hätte ich mich deutlicher ausdrücken sollen.« Er beugte sich zu ihr. »Du und ich – wir könnten berauschende Dinge miteinander erleben. Du ahnst nicht, was dir entgeht«, flüsterte er an ihrem Ohr.
Sie wich zur Seite und spürte zu ihrem Ärger, wie eine leichte Röte in ihre Wangen stieg, obwohl der Sarkasmus nur zu deutlich durch seine Worte drang. Er wollte sie lediglich provozieren, um mehr aus ihr herauszubekommen. Dabei wäre es eigentlich an ihr gewesen, ihn auszuhorchen, denn Ronsard gehörte zu den
Weitere Kostenlose Bücher